Anke Stelling: “Bodentiefe Fenster”

Anke Stelling: “Bodentiefe Fenster”

Dieses Buch könnte auch “Das große Grübeln” heißen, denn das ist es, was Sandra von morgens bis abends tut: Grübeln und sich Sorgen machen.

Aber der Reihe nach: Sandra ist um die vierzig Jahre alt und lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in einem selbstverwalteten Gemeinschaftswohnprojekt im Prenzlauer Berg in Berlin.
Richtig glücklich scheint sie dort aber nicht zu sein.

In diesem Projekt ist es so, dass man sich untereinander besucht, die Kinder der anderen Paare zum Frühstück vorbei kommen und man zu gemeinsamen Grillabenden im Garten einlädt.
Auf der “Einladung” steht dann: “Wer mag, kann dann zum Grillen in den Garten kommen”.
Für Sandra stellen diese “Einladungen” allerdings kein “Kann” dar.
Für sie ist es ein “Muss” sich hinunter zu begeben, damit die anderen nicht denken, sie würde sich der Gemeinschaft entziehen.

Auch zum regelmäßig stattfindenden Plenum geht sie, obwohl dort eigentlich schon längst keine wichtigen Themen mehr besprochen werden und sie sehr angestrengt ist von Jörn, der das Plenum immer moderiert.
Diese Veranstaltung ist eigentlich vollkommen sinnfrei und Sandras Mann Hendrik geht schon lange nicht mehr hin. Er will einfach nichts mehr zum Thema: “Dürfen wir das Planschbecken im Sommer mit Wasser füllen, oder ist das Verschwendung von Ressourcen” hören.

Keinen stört, dass er nicht hin geht, keiner sagt was dazu, aber Sandra kann nicht anders: Immer geht sie hin, ist am Ende mit den Nerven fertig und frustriert und grübelt.
“Er [Hendrik] findet es befremdlich, wie viele Gedanken ich mir um meine Freundinnen und die Bekannten und die Nachbarinnen und die Kitamütter und die Kaiser´s-Kassiererinnen mache.”

Um ihre Freundin Isa macht sie sich wirklich viele Sorgen: Isa und Tom sind ein kluges und unterhaltsames Paar. Tom hat schon zwei Kinder in die Beziehung mitgebracht und wollte auch keine weiteren Kinder mehr. Isa allerdings schon.
Sie wurde schwanger und jetzt hat sie den Salat, denn Tom nimmt ihr die Kinder nie ab. Auch wenn sie mal auf die Toilette muss und ihn bittet kurz auf das Kind aufzupassen, sagt er: Nein. Du wolltest es, dann musst Du Dich auch darum kümmern.
Das ist hart. Und dass ihre Freundin so behandelt wird, belastet Sandra sehr.
Die Situation ist ja auch vollkommen absurd, zumal Tom den Kindern aus der früheren Beziehung zum Beispiel ein Eis kauft und denen, die er mit Isa hat nicht.

Sandra möchte die Welt besser machen und versucht dies zur Anpassung zu erreichen. Immer geduldig sein, nie anecken, es allen Recht machen.
Ständig vergleicht sie sich mit anderen: Wenn sie keine Kinder hätte, wäre sie bestimmt wie Kerstin, die keine Kinder hat, aber sich allen aufdrängt, was sehr anstrengend ist.
Für Sandra ist es schlimm, festzustellen, dass sie ebenso wäre – aber sie hat ja Kinder.

Also ist eigentlich alles in Ordnung. Aber dann stellt Sandra sich vor, wie es wäre, wenn sie keine bekommen hätte und fragt sich, ob es überhaupt richtig gewesen ist, welche zu bekommen. Allerdings hat sie ihrer Mutter in jungen Jahren schon versprochen, dass sie Kinder bekommt. Und Versprechen muss man halten.
Sie liebt ihre Kinder ja, aber manchmal ist ihr alles zu viel und sie bricht in der Kita in Tränen aus. Einfach so.
Im Wohnprojekt gibt es diverse Frauen, die bereits einen Burn-Out hinter sich haben, oder kurz davor stehen. Sandra ist ebenfalls auf dem besten Wege dorthin.

Bevor die Longlist des Deutschen Buchpreises herausgekommen ist, sagte mir “Bodentiefe Fenster” ehrlich gesagt überhaupt nichts.
Allerdings war mir dann gleich klar, dass ich dieses Buch lesen muss und schon nach den ersten Seiten wusste ich: Das wird toll!
Anke Stellings Tonfall hat mich von vorne herein fasziniert und das Thema an sich, finde ich sehr spannend.
Sandra gehört einer Generation an, die eigentlich alles hat. Dennoch ist sie unglücklich, unzufrieden und weiß nicht, wohin mit sich im Leben.
Sie könnte sich professionelle Hilfe holen, aber hätte sie dann nicht schon komplett versagt?!
Man muss es alleine schaffen. So ihr Credo. Wie man so vieles muss.

Was ich mich die ganze Zeit über gefragt habe ist, warum sie noch im Wohnprojekt wohnen bleibt, wenn sie das Leben dort doch so sehr anstrengt.
Wenn diese intensive Nähe zu den Nachbarn nicht da wäre, ginge es ihr bestimmt besser. Natürlich kann man Ausreden finden, wie zum Beispiel: Für die Kinder hier ist es das Paradies – was allerdings auch nur bedingt zutrifft, zumal der anstrengende Nachbarsjunge ihrem Sohn nicht so wirklich gut tut.
Aber wo sonst sollen sie denn miteinander in Kontakt kommen und von einander lernen? Allerdings ist Sandras Sohn auch in der Kita, der Kontakt zu anderen wäre da…alles nur Ausreden?

Ich fand es intensiv und lebensnah, wie Sandras ständige Konflikte mit sich selbst beschrieben werden.
Klar, an ein oder zwei Stellen habe ich auch gedacht, jetzt übertreibt sie, aber dann habe ich mir überlegt, dass genau das ganz viele zu ihr sagen und dass das vielleicht die falsche Herangehensweise an ein Buch ist, dass genau dieses intensive Grübeln zum Thema hat.
Da ist: “Die spinnt doch, so denkt doch keiner, vollkommen unrealistisch” der falsche Ansatz.
Vielleicht sollte man sich darauf einlassen, dass es wirklich so sein kann, wenn man dauernd nachdenkt und sich Sorgen macht.

Denn, wenn man sich darauf einläßt und sich dem Sog dieses Buches und Sandras Gedanken hingibt, merkt man ganz schnell, wie schwierig es sein kann, nicht mehr aus dieser Grübelfalle hinauszukommen.
Den “Absprung” nicht zu schaffen – und somit nicht wissen kann, wo das alles hinführen wird.
In ein glückliches Leben zumindest bestimmt nicht.

Ich jedenfalls bin Anke Stellings Sprache und der Intensität des Buches sehr begeistert. Ich fürchte zwar, dass es diesem Titel nicht gelingen wird, auf die Shortlist zu kommen, aber vielleicht gibt es ja eine Überraschung. Darüber würde ich mich sehr freuen.

P.S.: „Bodentiefe Fenster“ hat mich mit der Tatsache versöhnt, daß “Die Glücklichen” von Kristine Bilkau (ich war hin und weg von diesem Buch) leider nicht für den Deutschen Buchpreis nominiert worden ist.

Noch ein P.S.: „Bodentiefe Fenster“ ist übrigens meines Wissens nach der erste Roman der Longlist des Deutschen Buchpreises überhaupt, über den in der BILD Zeitung berichtet worden ist.

» zur Leseprobe*


ISBN: 9783548288512
Erscheinungsjahr: 2016
Verlag: Ullstein
Seiten 256
Preis: 10,00 €

Die gebundene Version dieses Titels ist 2015 im Verbrecher Verlag erschienen.


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4 thoughts on “Anke Stelling: “Bodentiefe Fenster”
Maren

Ohja, das ist auch eins der beiden Bücher, die mich von der diesjährigen Longlist als erstes angesprungen haben und ist bereits vorgemerkt

Friederike

Ja, so ging es mir auch! Ich wünsche viel Spaß beim Lesen!

Ina

Ich kenne aus meiner nächsten Umgebung einige ähnliche Fälle: Dieses Verharren in unangenehmen Lebenssituationen, die sich verändern ließen, beobachte ich bei mehreren mir nahestehenden Menschen. So etwas ist mir unverständlich, und da ich schon dieses Mit-Ansehen-Müssen frustrierend finde, ist dieses Buch wohl eher nichts für mich. Nicht nur das Wohnen in dieser Umgebung, sondern auch der Umstand, dass Isa von diesem Tom offenbar nicht nur eins, sondern mehrere Kinder bekommen hat, obwohl sie wusste, dass er keine mehr will, ist saublöd. Was, damit du mich nicht missverstehst, auf keinen Fall Toms Verhakten rechtfertigen oder gar entschuldigen soll. Dass die Kinder die Situation ausbaden müssen, ist eine Unverschämtheit.
Ich habe an diesem Wochenende eine „Räuberpistole“ bei http://inasbuecherkiste.blogspot.de vorgestellt. Vielleicht hast du ja Lust, vorbeizuschauen.

Mona

Mehr Berlin, mehr Dissens, aber weniger populär-kulturelle Befindlichkeiten gibt es übrigens hier:

http://laputa-verlag.blogspot.de/2015/03/dieses-buch-ist-besser-als-pop.html

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