Ein brisantes Thema hat sich der renommierte Jugendbuchautor und studierte Theologe Christian Linker da ausgesucht, denn es geht um die Frage, wie es kommen kann, dass ein Jugendlicher, der alles hat, für den Islamischen Staat nach Syrien gehen und dort kämpfen möchte. Dieses Buch ist nicht nur leider thematisch hochaktuell, sondern auch unglaublich spannend erzählt.
Jakob ist 18 Jahre alt, hat die Schule hinter sich und ist gerade zu seiner Freundin gezogen, die in einer WG lebt. Eigentlich wollte er nach Afrika, um die Welt zu retten, doch das hat leider kurzfristig doch nicht geklappt. Jetzt ist er eben für VWL eingeschrieben – mit eher mäßigem Interesse.
Auf dem Weg von der Uni nach Hause bekommt er mit, wie zwei Männer eine verschleierte junge Frau in zerwaschenen Jeans und knallroten Docs belästigen und bedrängen. Jakob geht dawischen und vertreibt die beiden, doch die Verschleierte bedankt sich nicht für seinen Einsatz. Sie geht einfach.
Dennoch begibt sich Jakob auf die Suche nach ihr, denn er hat ihre intensiven blauen Augen gesehen und sich in diese verliebt.
Schließlich sieht er sie wieder, aber nicht so, wie er sich das vorgestellt hat, sondern auf einem Foto in der Zeitung, das sie bei einer Salafisten-Veranstaltung in Bonn zeigt.
Jakob weiß eigentlich nichts über Salafisten, außer “dass es sich um eine radikale Sekte oder etwas in der Art handele”. Er beginnt zu recherchieren, über Salafisten, den Verein in Bonn und gelangt zu einem Artikel, in welchem vermutet wird, dass ein Mitglied dieses Vereins, dem auch das Mädchen mit den blauen Augen angehört, Deutschland verlassen habe um, so wird vermutet, sich in Syrien oder dem Nordirak dem Islamischen Staat anzuschließen.
So harmlos scheint dieser Verein wohl nicht zu sein, dennoch geht Jakob zu einer der Versammlungen und lernt den Bruder des Mädchens (Adil) kennen, der in diesem Verein eine große Rolle spielt und der ihm anbietet, ihm zu helfen, sollte Jakob einmal so richtig Probleme haben, denn Mulime helfen einander.
Adil beteuert, das tue er auch für Jakob, obwohl er kein Muslim sei. Noch nicht zumindest.
Jakob steckt eines Tages wirklich ganz tief in der Scheiße, er hat seine Freundin verlassen, deren Welt er nicht versteht und beschließt, die Nacht in Clubs zu verbringen, mit Mädchen rumzumachen und sich einfach nur zu betrinken.
Mitten im Rausch auf der Straße wird ihm der Geldbeutel geklaut, er weiß nicht mehr weiter, kann nicht nach Hause und da ruft er in seiner Verzweiflung Adil an. Der auch zu Hilfe eilt. Aber um welchen Preis….?
Dies ist die Geschichte eines intelligenten aber orientierungslosen jungen Mannes, der sie satt hat diese konsumorientierte, oberflächliche Welt, die Jagd nach Credit Points und der angesagtesten Party.
Die Liebe gießt da natürlich nochmal Öl ins Feuer, denn er weiß, dass er dieses faszinierende muslimische Mädchen, Samira heißt sie, niemals kennen lernen wird, wenn er nicht zumindest vorgibt, sich für den Islam zu interessieren. Aus zunächst vielleicht noch etwas geheucheltem Interesse wird Ernst, als er merkt, dass vor allem Samiras Bruder Adil einen näheren Kontakt zu Samira niemals zulassen würde, wenn er sich nicht auf den Verein und den Glauben einläßt.
Jakob läßt sich drauf ein und zwar richtig. Er will alles in seiner neuen Glaubensrichtung richtig machen und hält sich sklavisch an alle Regeln, ohne zu merken, dass er sich einer extremen Richtung zuwendet, die Samira gar nicht gut heißt und die für sie mit dem einfachen muslimischen Glauben nichts mehr zu tun hat.
Adil erklärt die Grausamkeit des Islamischen Staats damit, dass der Kampf für die richtige Sache manchmal Grausamkeit erfordere und dass viele neue Staaten, denn es gehe hier ja schließlich darum den einen Staat zu errichten, das Kalifat, schon mal “Jugendsünden” begehen würden, morden und foltern. Aber das wachse sich aus.
Die Realität lernt Adil dann kennen, als er über die Türkei in den Irak reist, um für den Islamischen Staat zu kämpfen.
Das ist der zweite Teil des Buches, denn Adil schreibt Tagebuch, was von seinen Mitkämpfern und Anführern nicht gerne gesehen wird. Dort berichtet er, wie es an der Front wirklich aussieht und das ist nicht so, wie er sich das alles in Deutschland ausgemalt hat. Außerdem muß er feststellen, dass er gar nicht wirklich versteht, gegen wen er da warum kämpft und wer jetzt zu wem gehört.
Der Autor selbst sagt, dass es ihm darum ging, zu zeigen, dass es nicht immer nur die Schulabbrecher oder junge Menschen aus zerrütteten Familien seien, die sich dem Extremismus zuwenden und dass das kompromisslose Verständnis von Freundschaft einer jeden Ideologie vorausgehe. Er sagt selbst zum Beispiel im Radiointerview, dass er nicht Mitglied im katholischen Jugendverband geworden sei, weil er so sehr vom Evangelium Jesu Christi überzeugt, sondern weil da tolle Leute waren.
Genauso geht es Jakob mit den Salafisten und dort findet er etwas, was er so nicht kennt. Unter anderem auch den Zusammenhalt, den er sich so wünscht. So sehr übrigens, dass er es sich ab einem gewissen Punkt verbietet über die zu stark vereinfachten Antworten der Salafisten nachzudenken. Das würde sein neues Leben in Frage stellen – oder es sogar kaputt machen.
“Dschihad Calling” ist ein unglaublich spannendes, sehr interessantes und informatives Buch. Man erfährt viel über die Religion des Islam, aber auch darüber, wie sich die Extremisten “ihren Islam” zurechtbiegen, um die Grausamkeiten des Islamischen Staat zu rechtfertigen.
Es geht darum aufzuzeigen, wie es kommt, dass ein ganz normaler junger Mann plötzlich seine ganzen westlich denkenden Freunde bei Facebook löscht, sich gegen sein “altes” Leben wendet und sich trotz diverser Zweifel einer radikalen Vereinigung verschreibt.
Das alles ist sehr gelungen. Klar, man kennt die Reportagen im Fernsehen, die Berichte in den Zeitungen, aber eine Romanfigur zu begleiten ist noch einmal von einer ganz anderen Intensität.
Ich habe diese Thematik während des Lesens viel persönlicher zu spüren bekommen, denn ich habe Jakob kennen gelernt und seinen Weg direkt verfolgt. Auch wenn es sich hier nur um eine erfundene Geschichte handelt, könnte sie so wirklich in der heutigen Zeit passiert sein, sieht man jetzt mal von der Love-Story ab.
Aber es sei auch gesagt, dass diese Geschichte nicht den Anspruch hat das komplexe Thema des Islam, des Islamischen Staates oder der Salafisten zu erklären, das kann man ja auf 320 Seiten auch gar nicht. Aber man kann dazu anregen, sich mit diesen Themen und vor allem mit der Frage, wie es dazu kommen kann, dass sich ein junger Mensch der alles hat radikalisiert, zu beschäftigen.
Dieses Buch könnte sich unter Umständen auch wunderbar als Schullektüre eignen.
Dtv hat jedenfalls für den Fall, das “Dschihad Calling” Unterrichtsstoff werden sollte bereits Lehrmaterialien zusammengestellt und ich kann dieses Buch, ob jetzt für die Schule, oder einfach „nur so“ wirklich empfehlen: Es ist sehr eindringlich geschrieben, behandelt das Thema Religion sehr differenziert und betrachtet den Islam aus unterschiedlichen Perspektiven.
Christian Linker hat einen hochspannenden Roman geschrieben, der sich weg liest wie nichts und definitiv nicht nur etwas für Jugendliche ist. Daumen hoch!
» Zum Radio-Interview mit Christian Linker
Ab 15 Jahren.
ISBN: 978-3-423-71723-6
Erscheinungsjahr: 2016
Verlag: dtv
Seiten: 320
Preis: 8,95 €
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