Als ich vor einiger Zeit in der Vorschau der englischsprachigen Verlage entdeckte, dass David Mitchell einen neuen Roman geschrieben hat, wurde ich ganz hibbelig und habe sehnsüchtig auf die deutsche Version gewartet, denn seit ich “Die tausend Herbste des Jacob de Zoet” vor vier Jahren gelesen habe, bin ich ein Fan-Girl: Ich liebe ihn einfach, den „Mitchell-Flow“.
Ich muß ja auch ehrlich zugeben, dass ich dezent skeptisch war, nachdem ich zum ersten Mal die Inhaltsangabe der “Knochenuhren” gelesen hatte. Da war die Rede von Leuten, die sich aus dem Nichts materialisieren, von Zeitlöchern, Aussetzern der Gesetze der Wirklichkeit und von einer Fehde, die sich in den Schatten und dunklen Winkeln unserer Welt abspielt. Es war für mich nicht wirklich klar, um was es in diesem Buch ging. Dazu kommt, dass ich gestehen muß, dass Fantasy einfach nicht mein Genre ist. Sobald es irgendwie übersinnlich wird, habe ich so meine Schwierigkeiten.
Aber egal, denn es handelt sich ja um einen Mitchell-Roman, also habe ich mich darauf eingelassen und habe es nicht bereut.
Es fängt auch alles ganz bodenständig an. Holly Sykes ist fünfzehn Jahre alt, arbeitet bei den Eltern im Pub mit und hat zwei Geschwister. So weit, so gut, wären da nicht die Stimmen, die sie von Zeit zu Zeit hört und sich die Frage stellt, ob sie verrückt geworden ist.
Holly ist zum ersten Mal verliebt, in einen 24jährigen jungen Mann, was ihre Mutter nicht gut heißt, woraufhin Holly abzuhauen beschließt und bei ihrem Freund einziehen möchte. Als sie überraschend in seiner Wohnung auftaucht, muß sie feststellen, dass er das mit der Liebe zu ihr wohl nicht so ernst genommen hat, denn ihre Freundin Stelle liegt schon in seinem Bett.
Die Genugtuung zurück nach Hause zu gehen, möchte sie ihrer Mutter nicht geben, also treibt sie sich durch die Gegend, arbeitet auf einer Erdbeerfarm und begegnet einer Frau, die sie um “Asyl” bittet. Wie auch immer das gemeint zu sein scheint.
Aber da sie der sehr durstigen Holly etwas zu Trinken gibt, sagt Holly einfach mal ja. Dieses Zugeständnis wird schwerwiegende Folgen haben und hat etwas mit den Stimmen im Kopf zu tun.
Dies ist eine von sechs Geschichten, aus denen “Die Knochenuhren” zusammengesetzt ist. Die zweite ist die des Studenten Hugo Lamb, der nicht ganz legal zu sehr viel Geld kommt und auf Holly Sykes trifft, die inzwischen in einem Pub kellnert.
Genau das ist das Besondere an diesen vermeintlich für sich stehenden Geschichten in diesem Roman: Sie alle sind miteinander verbunden und wenn man gar nicht damit rechnet, taucht plötzlich eine Figur aus einer anderen Geschichte auf und man erfährt wie es dieser Person in der Zwischenzeit ergangen ist.
In der dritten Geschichte geht es um Ed, der Kriegsjounalist ist und sich nicht wirklich wohl fühlt, wenn er sich nicht bei einem Arbeitseinsatz befindet. Gerade ist er wieder zu Hause bei seiner Frau Holly und der gemeinsamen Tochter. Die Hochzeit seiner Schwägerin steht an und er hat versprochen aufzuhören mit dem “in den Krieg ziehen”. Doch inzwischen hat er ein erneutes Angebot für einen Einsatz bekommen, der sechs Monate dauern soll. Dies Holly beizubringen wird sicherlich nicht einfach werden.
Des Weiteren lernen wir Crispin Hershey kennen, einen ehemals sehr erfolgreichen Schriftsteller, der damit leben muß, dass ein einziger Kritiker den Erfolg seines neuen Buches zunichte gemacht hat.
Auch treffen wir auf die eigentliche Hauptfigur der Knochenuhren, auf Holly Sykes, die inzwischen einen Roman über ihre inneren Stimmen geschrieben hat, der ein großer Erfolg geworden ist.
Der fünfte Teil ist der, mit dem ich wirklich so meine Schwierigkeiten hatte, denn es geht um die Stimmen in Hollys Kopf, die sich materialisieren. Es geht um Anachoreten, um Horologen und mir war das Ganze zu viel Fantasy. Ich bin einfach nicht mehr mitgekommen und muß zugeben, dass ich auch fast zu lesen aufgehört hätte, mir dann aber dachte: Jetzt hast Du schon hunderte von Seiten gelesen, dieses Kapitel wird ja bald zu Ende sein.
Ich bin froh, dass ich durchgehalten habe, denn danach folgt der Teil in dem die Welt durch Umweltkatastrophen weit zurückgeworfen worden ist. Wir befinden uns ca. im Jahr 2043. Es gibt nur selten Strom und die die Lebensmittel sind rationiert.
Holly lebt in dieser Zeit und ist inzwischen Großmutter geworden. Alles Vergangene, der Erfolg als Schriftstellerin, das Arbeiten im elterlichen Pub, der Einsatz als Erdbeerpflückerin, scheint unglaublich weit weg zu sein. Die Welt hat sich verändert und Mitchell schildert uns sehr glaubhaft, wie es mit unserem Planeten einmal zu Ende gehen könnte.
David Mitchell hat eine unglaubliche Phantasie. Es ist das eine, sich Geschichten ausdenken zu können, aber eine hohe Kunst ist es, diese so aufzuschreiben, dass sie Sinn ergeben – besonders bei einem derart komplexen Konstrukt wie es bei den “Knochenuhren” der Fall ist.
Mitchell kann beides. Alles ist stimmig und dass ihm die Phantasie bei den Horologen und Anachoreten durchgegangen ist, verzeihe ich ihm gerne. Denn alles außer diesem besagten Teil ist für mich großes Kino. Er kann einfach sehr überzeugend fabulieren und Geschichten miteinander verknüpfen. Das hat er schon damals mit dem “Wolkenatlas” bewiesen.
Wer sich einfach mal wieder so richtig in ein Buch fallen und den Geist treiben lassen möchte, der greife einfach zu einem Mitchell-Roman. Entweder zum “Wolkenatlas” zu den “Tausend Herbsten des Jacob de Zoet”, oder zu den vorliegenden “Knochenuhren”. Es ist egal, denn den Mitchell-Flow haben sie alle.
ISBN: 978-3-499-27048-2
Erscheinungsjahr: 2017
Übersetzung: Volker Oldenburg
Seiten: 816
Verlag: Rowohlt
Preis: 12,99 €
Die gebundene Ausgabe dieses Buches ist 2016 bei Rowohlt erschienen.
Das könnte Dir vielleicht auch gefallen:
- David Mitchell: Der Wolkenatlas
- David Mitchell: Die tausend Herbste des Jacob de Zoet
9 thoughts on “David Mitchell: “Die Knochenuhren””