Deborah Feldman: “Unorthodox”

Deborah Feldman: “Unorthodox”

Dieses Buch ist bereits so viel besprochen und gelobt worden, dass ich zunächst Bedenken hatte, es zu lesen.
Meine Erwartungen waren extrem hoch und in solchen Fällen ist es mir schon sehr oft passiert, dass ich nach der Lektüre enttäuscht war.
Bei “Unorthodox” hätte ich mir diesbezüglich allerdings keine Sorgen machen müssen, denn dieses Buch hat meine Erwartungen nicht nur erfüllt, sondern sogar übertroffen.

“Unorthodox” ist keine Fiktion, sondern die Autobiographie Deborah Feldmans, eine chassidische Jüdin, die sich dazu entschieden hat, ihre ultraorthodoxe Gemeinde in New York mit Mitte zwanzig zu verlassen. Einen Schritt, den nicht viele wagen und noch viel seltener wird darüber gesprochen bzw. offen geschrieben.
Nur wenig dringt aus dieser Welt nach außen und so ist es eigentlich nicht verwunderlich, dass Deborah Feldmans Buch ist ein Bestseller ist, der sich mit Rasanz verbreitet hat, weswegen sie bei ihrer ehemaligen Gemeinde als geächtet gilt. Mit ihrer Familie hat sie keinen Kontakt mehr.

In der ultraorthodoxen Welt, in der Deborah Feldman aufwächst, besinnt man sich auf die Tradition, spricht Jiddisch und trägt traditionelle Kleidung. Die wichtigste Funktion besteht darin, sich fortzupflanzen, um die Juden zu ersetzen, die während des zweiten Weltkriegs umgebracht worden sind. Wachstum ist das Wichtigste, weshalb Verhütung natürlich verboten ist. Jedes neu geborene Kind wird als Sieg über Hitler verstanden.

Dadurch, dass ich “Die Hochzeit der Chani Kaufman” (ein Buch von dem ich nach wie vor begeistert bin) gelesen hatte, wußte ich schon ein bisschen etwas über das jüdisch-orthodoxe Leben. Dass es zum Beispiel eine Heiratsvermittlerin gibt und sich die zukünftigen jungen Eheleute vor der Hochzeit nur ganz flüchtig kennen lernen und dass ihnen das Berühren des Anderen untersagt ist.
Dass die Frauen, nachdem sie ihre Periode gehabt haben ins rituelle Reinigungsbad gehen (Mikwe), um sich rein zu waschen und dass sie nach der Hochzeit eine Perücke (Scheitel) tragen, da nur ihr Ehemann ihre eigenen Haare sehen darf.
In “Die Hochzeit der Chani Kaufman” gibt es eine junge Frau, die, wie Deborah Feldman, verheiratet wird und eine weitere, die mit dem Gedanken spielt, auszusteigen. Doch es ist und bleibt ein Roman, der mich allerdings eine ganze Nacht lang hat wach liegen lassen.

“Unorthodox” ist für mich die nächste Stufe nach “Der Hochzeit der Chani Kaufman”. Zum einen, weil die Autorin dies alles wirklich erlebt hat und zum anderen, weil ihre New Yorker Gemeinde noch orthodoxer ist, als die in “Chani Kaufman” geschilderte.
In Deborah Feldmans ultraorthodoxer Welt ist das Tragen des Scheitels zum Beispiel ebenso gebräuchlich, allerdings mit dem Unterschied, dass die verheiratete Frau ihre eigenen Haare nicht behalten darf. Diese werden abrasiert.
Des Weiteren herrscht der Glaube, dass der Holocaust die Strafe dafür gewesen sei, dass die Juden sich vor dem zweiten Weltkrieg gebildet hätten, weshalb es den Frauen der Gemeinde heute noch untersagt ist, Bücher zu lesen.
Bildung ist nicht erwünscht, das muß auch die junge Deborah feststellen, die doch so bildungsdurstig ist. Heimlich schleicht sie sich in die Bibliothek und kauft sich Bücher, die sie Zuhause unter der Matratze versteckt.
Auch die hebräischen Bücher, die ihr Großvater im Schrank hat, sind für sie tabu. “Mädchen gehören in die Küche”.

Ihre Situation wird noch dadurch verschärft, dass ihre Mutter die Gemeinde verlassen hat und eine Goyim (Nichtjüdin) geworden ist, mit der Deborah keinen Kontakt mehr hat. Ihr Vater kann sich ebenfalls nicht um sie kümmern, denn er ist geistig leicht zurückgeblieben und nicht dazu in der Lage.
In der Gemeinde (die im Vorwort als Sekte bezeichnet wird) ist es üblich, seine Kinder nach der Torah zu erziehen, Chinuch heißt dies und erlaubt es den Erziehungsberechtigten, die Kinder zu schelten, zu beschämen und sie anzuschreien. Küsse und Umarmungen sind nicht vorgesehen. Sich Komplimente zu machen ebensowenig.
Dass Deborah ein Freigeist ist, der beginnt die Riten und Regeln der Gemeinde zu hinterfragen, macht ihr Leben nicht einfacher.

Einen Einblick in diese Parallelwelt zu erhalten, war für mich hochinteressant.
Ich habe “Unorthodox” bis spät in die Nacht hinein gelesen, obwohl ich wußte, dass ich am nächsten Tag früh aufstehen mußte – aber dieses Buch konnte ich einfach nicht mehr weglegen.
Der spannendste Teil war für mich der nach Deborahs Hochzeit, denn an diesem Punkt hört der Roman “Die Hochzeit der Chani Kaufman” auf und ich habe mich oft gefragt, wie es dann weitergehen könnte. Jetzt habe ich eine Ahnung davon. Schön ist diese allerdings nicht.

Ich bewundere Deborah Feldman für ihren Mut, ihr altes Leben verlassen zu haben, darüber zu schreiben und uns so an einer Welt teilhaben zu lassen, von der man sich gar nicht vorstellen kann, dass sie so in der heutigen Zeit noch existiert.
Hinzu kommt, dass Deborah Feldmans Art zu Schreiben unglaublich intensiv ist.  Es ist kein effektheischender Ton, wie er in so manch anderem “Lebenserfahrungsbericht” anzutreffen ist – Deborah Feldman schreibt klar und direkt – wir haben hier ein brillantes Stück Gegenwartsliteratur vor uns.

Für mich ist “Unorthodox” klar eines meiner Highlights des Jahres 2016, wenn nicht sogar DAS Highlight. Ich denke, dass es ein Buch auch für jene sein könnte, die glauben, sich nicht für das jüdische Leben zu interessieren, oder die bisher noch keine Berührungspunkte mit dieser Kultur hatten.
Es ist ein kulturelles Zeitzeugnis, das meinen Horizont erweitert und mir gezeigt hat, wie wichtig es ist, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen.
Deborah Feldman hat dieser Blick ein neues Leben verschafft, ein Leben als Autorin und ich hoffe, dass dies nicht ihr letztes Werk gewesen ist.

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In ihrem zweiten Werk „Überbitten“ schreibt Deborah Feldman darüber, wie ihr Leben nach dem Ausstieg weiter ging.
Dieses Buch ist mein Highlight des Jahres 2017, denn es hat mich tief beeindruckt.

» zu meiner Rezension


ISBN: 978-3-442-71534-3
Erscheinungsjahr: 2017
Übersetzung: Christian Ruzicska
Verlag: btb
Preis: 10,00 €

Die gebundene Ausgabe dieses Titels ist 2016 bei Secession erschienen.


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11 thoughts on “Deborah Feldman: “Unorthodox”
Uwe Rennicke

Durch diverse Dokumentationen, meist aus Israel / Jerusalem, ist mir mances doch schon sehr bekannt. Wie man in einer Stadt wie N.Y. als ultraorthodoxe jüdische Gemeinde überleben kann ist mir eigentlich schleierhaft. Wie kommt man zu dem Geld, weelches man zum Leben braucht? Bekommen die soviel Spenden?
Immer dann, wenn eine Religionsgruppe derartig orthodox wird, ist mir das überaus suspekt.
Danke für diese Buchbesprechung.

Friederike

Die Frage, wie man in dieser Gemeinde Geld verdient, habe ich mir auch gestellt.
Als Deborah verheiratet wird, wird gesagt, dass sie nicht viel Geld haben, da ihr Mann, ich kann mich da auch täuschen, bei einem Freund oder Verwandten mitarbeitet.
Was ich mich jedoch gefragt habe ist, wie der Großvater, der ja stehts sparsam lebte, zu Geld gekommen ist. Es muß ja vorhanden gewesen sein, da er in der Lage ist, die Hochzeit und die benötigten Geschenke, die sich das Ehepaar zuvor macht, finanzieren kann.
Ich werde mich da nochmal schlau machen, zumal ich diese Thematik sehr spannend finde.

Viele Grüße, Friederike

    Kerstin

    Ja, mich hat diese Frage bei allem Entsetzen über die menschenverachte den Extreme auch beschäftigt. Wo ist der amerikanische Staat, der das begrenzt. Das Alibi-Englisch in der Schule scheint ja nur eine halbherzige Auflage zu sein.

Karin

„dass sie nach der Hochzeit eine Perücke (Scheitel) tragen, da nur ihr Ehemann ihre eigenen Haare sehen darf“

Das trifft nicht immer zu – viele orthodoxe jüdische Frauen tragen nach ihrer Hochzeit ein Kopftuch, eine Haube oder einen Hut, was durchaus modern und modisch aussehen kann. Einfach bei Google die Suchbegriffe „Jewish tichel“ oder „Jewish headscarves“ eingeben, und es erscheinen jede Menge Fotos dazu.

Katharina

Also, ich habe jetzt 80 Seiten gelesen und komme nicht so richtig rein in die Autobiografie. Ich finde es so diffus – erst ist sie eine Jugendliche, dann kommen die Erinnerung an die Kindheit … Was mit ihrer Mutter ist, wird auch nur in kleinen Nebensätzen erklärt und wie genau es sich mit Großmutters Bubbys Erfahrungen im Holocaust verhält, hab eich auch nur hier und da aufgeschnappt…

    Yvonne

    Selten einen so oberflächlichen, selbstbezogenen, relativ primitiven Klatschroman gelesen. Und das leider bei einer interessanten Thematik. Wenn das in den USA ein Bestseller ist, wundert es nicht, dass ein Donald Trum Präsident wird. Die Dummheit feiert Urständ. Frau Feldman ist eine gestörte Narzisstin in einem gestörten Umfeld und in einer offensichtlich gestörten Welt, die nicht mehr in der Lage ist, das zu erkennen. Selbsternannte Psycho-Genies erklären die Welt und die Welt applaudiert.

      Marco

      Yvonne, dein Kommentar trifft mit jedem Wort exakt ins Schwarze! Dass dieses blasse, unreife Geschreibsel ohne jede Substanz in den USA zum Bestseller wurde, verdankt es wohl der simplen, aber geschickten Marketingstrategie zur Befriedigung der Sensationslust an Berichten ‚aus erster Hand‘ über das Innere von Parallelwelten. Was mich aber mindestens so irritiert, ist, dass auch die deutschsprachige Ausgabe – mitsamt der ungelenken Formulierungen (unzulängliche Übersetzung?) – selbst im ‚Land der Dichter und Denker‘ durchwegs hochgejubelt wird. Offenbar hütet man sich vor Kritik an einem unzulänglichen Machwerk aus der Feder einer Enkelin von Holocaustüberlebenden, weil ein (deutschimmanentes) Tabu…(!?)

      christine

      Wie in aller Welt können Bubby und Zeidi ihre Erfahrungen überwinden? Über Zeidi weiss ich praktisch nichts. Auch ganz wenig über Bubby. Bubby hat all ihre Verluste nie überwunden, wie auch? Sie musste, um ein einigermassen friedliches Leben zu haben, in eine Parallelgesellschaft untertauchen. Zeidi, der bestimmt schon genauso viel erlitten hat, wird nicht im Detail beschrieben. Ganz schlimm der Egotrip der Deborah Feldmann und, ausserdem mit vielen literarischen Unzulänglichkeiten!

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Bri

Auch wenn „Die Hochzeit der Chani Kaufman“ ein Roman ist, so ist es ein Roman der sehr von den Erlebnissen der Autorin Eve Harris, die ja selbst in ultraorfhodoxen Verhältnissen aufwuchs, geprägt ist. Also ich denke, der Realitätsgehalt ist da schon auch sehr hoch. Und die Tatsache, dass sie in einem Interview selbst sagte, sie gäbe reale Quellen nicht preis, lässt tief blicken. LG, Bri

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