Emma Cline: „The Girls“

Emma Cline: „The Girls“

Als ich dieses Buch zum ersten Mal in der Vorschau sah, fiel es mir auf, weil Richard Ford sich so beeindruckt zeigte.

Die Inhaltsangabe war eher vage gehalten und ich dachte, es sei ein Roman über eine Mädchenfreundschaft in den 70er Jahren. Dann erschien der Literatur-Spiegel mit einem Bericht über dieses Buch und während des Lesens ging mir auf, dass es in “The Girls” um weit mehr geht, als um Freundschaft.
Es geht um den amerikanischen Kriminellen und Sektenführer Charles Manson, der seine “Jünger” beauftragte Menschen umzubringen und seit 1972 eine lebenslange Haftstrafe in den USA verbüßt.

Evie ist 14 Jahre alt. Ihre Eltern haben sich scheiden lassen und ihre Mutter ist seither auf einem Selbstfindungstrip: Sie schleppt neue Männer an, sucht nach spirituellen Erfahrungen und vergißt ganz und gar, dass sie eine Tochter hat, die sich nichts sehnlicher wünscht, als Aufmerksamkeit.
Doch genau dieser Wunsch bleibt Evie verwehrt und im kommenden Herbst wird sie auf ein Internat geschickt werden.

Sie selbst denkt, dass ihre Eltern sehr von ihr enttäuscht sind, da sie nicht großartig ist, sondern nur mittelmäßig – mittelmäßige Noten nach Hause bringt und sehr durchschnittlich aussieht. Evie zweifelt an sich selbst und an der Welt an sich. Sie ist mitten in der Pubertät und Freundinnen hat sie auch nicht wirklich. Nur Connie, die ihr manchmal nicht genug zu sein scheint. Sie möchte mehr.

Bei einem Nachmittag im Park sieht sie eine Gruppe von Mädchen und ist vollkommen fasziniert. Wie Haie gleiten sie durch die Menge und als ob sie vollkommen alleine wäre, entblößt eine, die Schönste der Gruppe, ihren Busen. Einfach so. Es scheint ihr völlig egal zu sein, was die anderen denken.
So würde Evie auch gerne sein. Sie traut sich aber natürlich nicht, die Mädchen anzusprechen, die gerade Mülltonnen nach Essbarem durchwühlen.

Der Zufall ist es schließlich, der Evie mit dem schönsten Mädchen der Gruppe, Suzanne, bekannt macht. So erfährt sie, dass die Mädchen mit vielen weiteren (zumeist weiblichen) jungen Leuten und deren Kindern auf einer Ranch leben und auch einen Anführer haben: Den charismatischen Russell, der mit allen Mädchen schläft und ihnen verbietet, sich die Haare zu schneiden. Aber das erfährt Evie erst viel später.
Eine vollkommen andere Welt öffnet sich für Evie, eine Welt, in der die Liebe zueinander das Wichtigste zu sein scheint, eine Welt ohne Eifersucht und Enttäuschungen.
Und so nimmt das Drama seinen Lauf….

Normalerweise bin ich eher skeptisch, wenn Bücher so hoch gelobt werden. Doch in diesem Fall ist dieser Hype gerechtfertigt: Was für ein Buch!
Emma Cline besitzt die Fähigkeit uns die Unsicherheit und die daraus resultierende Empfänglichkeit ihrer Protagonistin so zu beschreiben, dass sie direkt greifbar wird. Der Leser kann vollkommen nachvollziehen, weshalb Evie nichts in Frage stellt und Suzanne nahezu vergöttert.

Im Übrigen ist sie es, nach deren Aufmerksamkeit sich Evie verzehrt. Der Anführer der Kommune ist für sie nur Beiwerk und da Suzanne ihn vergöttert, verehrt Evie ihn eben auch. Eine ganz logische Konsequenz.
Auch die Drogen lassen Evie nicht zweifeln, sie findet diese Substanzen cool und nimmt alles, was ihr angeboten wird. Es gehört eben dazu.

Ihrer alten Welt gegenüber beginnt Evie sich überlegen zu fühlen und klaut ihrer Mutter auch ohne schlechtes Gewissen Geld, das sie natürlich an Suzanne weiter gibt. Evies Eifer kennt keine Grenzen und macht auch vor den Geldbeuteln anderer Leute nicht Halt.
Russell nutzt natürlich Evies Ergebenheit aus, lässt sie zu sich kommen und ihn befriedigen. Er ist “Experte für weibliche Traurigkeit” und weiß, wie er Mädchen beeinflussen kann, damit sie alles tun, was er wünscht.

Das alles an sich wäre schon eine tolle Geschichte, doch hinzu kommt, dass es diese Menschen, die Kommune und Russell wirklich gegeben hat.
Die Rede ist von Charles Manson und seiner sektenähnlichen Gruppierung “Manson Family”, die in den 70er Jahren sieben Menschen ermordete.

Charles Manson hatte eine schwere Kindheit – seine Mutter war kriminell und so wuchs er bei seinen Großeltern auf, die ihn streng religiös erzogen. Danach folgten diverse Delikte und Gefängnisaufenthalte, während denen er unter anderem Gitarre spielen lernte und zu glauben begann, dass er eine große Musikerkarriere vor sich habe.
Schließlich gründete er seine eigene Kommune, die auf rassistischen Standpunkten basierte und in welcher Frauen nur als Dienerinnen des Mannes angesehen wurden.
Dennoch war seine Anhängerschaft zum größten Teil weiblich und manchmal wollten so viele dazugehören, dass das Los entscheiden musste.
Was alles in dieser Gruppe passierte und zu was die Mädchen schließlich fähig waren, das möchte ich jetzt nicht vorweg nehmen. Wer möchte, kann die Geschichte Charles Mansons hier komplett weiterlesen.

Wer bei “The Girls” allerdings einen blutigen Krimi und die Beschreibungen grausiger Handlungen erwartet, der wird enttäuscht sein. Denn darüber schreibt Emma Cline nicht.
Es geht vielmehr darum zu zeigen, dass wir beeinflussbar sind und es Situationen im Leben gibt, in welchen wir empfänglicher für spezielle Lebensideen sind, als in anderen.
Jetzt sitzen wir auf der Couch und sagen: Aber dem wäre ich nie verfallen! Wie naiv die Protagonistin doch ist! Wie weltfremd.
Aber seien wir doch mal ehrlich: Ist dem wirklich so? Wie waren wir denn mit 14 Jahren. Hatten wir da schon DIE Meinung schlechthin? Konnten wir schon alles so differenziert beurteilen?

Nicht alle Menschen sind in frühen Jahren so stark, wie zum Beispiel die Autorin Deborah Feldman, die in einer orthodoxen jüdischen Gemeinde in New York lebte. In einer extrem strengen Welt, einer Parallelgesellschaft von der ich immer noch nicht ganz glauben kann, dass sie in der heutigen Zeit noch so existiert.
Doch sie hat sich ihre eigenen Gedanken gemacht, zum Beispiel darüber, wie ungerecht es doch ist, dass Frauen und Mädchen nicht lesen dürfen.
Sie erhielt keinerlei Unterstützung und wagte dennoch mit 23 Jahren den Ausstieg aus dieser Welt – wissend, dass sie verstoßen werden und ihre Familie den Kontakt vollkommen abbrechen würde.
Sie ist eine unglaublich starke Frau und hat über ihre Kindheit und Jugend ein beeindruckendes und hochinteressantes Buch geschrieben: “Unorthodox” heißt es und ist schlichtweg grandios, genauso wie ihr zweites Werk „Überbitten“, in welchem sie über die Zeit nach ihrem Ausstieg schreibt.

Ich bewundere Deborah Feldman sehr für ihren Mut, sich nicht beeinflussen zu lassen und kann Evies Weg in “The Girls” gleichzeitig sehr gut verstehen. Wenn man diese Kraft nicht aufbringt, Dinge zu hinterfragen (und wie soll man das denn mit 14 Jahren, wenn alles andere im Gegensatz zum eigenen Leben so faszinierend und aufregend ist) und man nur dazugehören will, dann macht man einfach mit.
Evies größter Wunsch ist es, Aufmerksamkeit zu bekommen. Mehr nicht. Und die bekommt sie von Russell und “The Girls”.

Emma Cline hat mit diesem Buch meine Erwartungen übertroffen. Gebannt habe ich Evies Weg verfolgt und kann es gar nicht glauben, dass “The Girls” Clines Erstlingswerk sein soll, denn sie schreibt mit einer lyrischen Gelassenheit und Selbstverständlichkeit, als ob dieses Buch bereits ihr fünftes Werk wäre.
Ich habe diese Lektüre sehr genossen und kann nur sagen: Hut ab!
“The Girls” ist ein Roman, der seinen Hype verdient hat.

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Die oben abgebildete Taschenbuchausgabe ist leider nicht mehr lieferbar.

Die gebundene Ausgabe:

ISBN:  978-3-446-25268-4
Verlag: Hanser
Übersetzung: Nikolaus Stingl
Erscheinungsjahr: 2018
Seiten: 352
Preis: 22,00 €


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9 thoughts on “Emma Cline: „The Girls“
Buchstabenträumerin

Was bin ich froh, deine Rezension gelesen zu haben! Ich stand dem Buch nämlich bislang eher skeptisch gegenüber – wegen besagtem Hype. Doch du hast mich vom Fleck weg überzeugt, dass „The Girls“ viel zu bieten hat und ein Buch ist, das ich sehr gerne lesen werde 🙂
Liebe Grüße,
Anna

Friederike

Liebe Anna,

danke! Das freut mich.
Ich wünsche Dir viel Spaß beim Lesen.

Viele Grüße,
Friederike

Eva

Ich war auch tief beeindruckt. Die unterschiedlichen Ebenen, mit denen der Roman das Thema der Suche nach Aufmerksamkeit bearbeitet fand ich ausgesprochen gut durchdacht. Und diese Nostalgie und das schon beinahe unheimliche Sehnen, das Evie noch immer für die Mädchen empfindet verleiht dem Roman ein großartiges Verständnis von Menschen.

Lg
Eva

    Friederike

    Liebe Eva,

    das hast Du so treffend und schön formuliert!
    Ich wünsche diesem Buch noch ganz viele Leser.

    Viele Grüße,
    Friederike

wiewellenamstrand

Wow, was für eine begeisterte und begeisternde Rezension. Klasse, danke Friedrike! LG Annette

Friederike

Danke! Ich freue mich über jedes Buch, das eine solche Schwärmerei bei mir auslöst und muß meine Begeisterung sofort teilen. Ob in der Buchhandlung oder schriftlich im Blog: Es muß sofort raus. 🙂

Ich wünsche Dir ein schönes Wochenende,
viele Grüße,
Friederike

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