Eve Harris: „Die Hochzeit der Chani Kaufman“

Eve Harris: „Die Hochzeit der Chani Kaufman“

Dieses Buch hat mir eine vollkommen fremde, eine ganz andere, sehr faszinierende Welt eröffnet. Chani Kaufman hat mich auch Tage nach der Lektüre beschäftigt und das ist, wie ich finde, etwas, was ein gutes Buch ausmacht.
Ich bin schlichtweg total begeistert.

Chani lebt in einer jüdisch-orthodoxen Gemeinde in London. Sie hat sieben Schwestern, was zum einen daran liegt, dass sich die Eltern immer noch einen Jungen gewünscht haben und zum anderen, dass Verhütung nicht erlaubt ist.
Chani selbst ist 19 Jahre alt, also im besten Heiratsalter und die Hochzeit ist im Leben eines jüdisch orthodoxen Mädchen der allerwichtigste Tag überhaupt.

Allerdings hat dieser Tag mit Liebe nichts zu tun, denn im orthodoxen Judentum ist es üblich, dass die Ehe arrangiert wird, ohne dass sich die Paare richtig kennen lernen. Aber den beiden Hauptakteuren es ist gestattet, den jeweils anderen abzulehnen. Von diesem Recht hat Chani bereits Gebrauch gemacht, allerdings ist sie selbst auch so manches Mal abgelehnt worden.
Das liegt vielleicht auch daran, das Chani anders ist, als die anderen Mädchen in der Gemeinde. Sie fügt sich nicht einfach, sondern hat ihren eigenen Kopf und stellt sich auch manchmal vor, wie es wäre, Hosen tragen zu dürfen.

Aber es gibt Hoffnung, denn den neuesten Heiratskandidaten (Baruch, der 20 Jahre alt ist und einmal Rabbi werden soll) hat sie bereits vier Mal getroffen.
Die Hand gegeben, oder auch nur berührt haben sich die beiden jedoch noch nicht. Das dürfen sie erst, wenn sie miteinander verheiratet sind.

Auch an Baruch hat sie zunächst etwas auszusetzen: Er hat drei Pickel am Kinn, was Chani dezent unästhetisch findet. Allzu wählerisch darf sie jetzt allerdings nicht mehr sein, denn als alte Jungfer zu enden gilt als erklärte Hölle.

Baruch seinerseits war immer brav. Er hat alles getan, um seinen Eltern keinen Ärger zu bereiten. Doch in diesem Falle von Chani, die Baruch sich selbst ausgewählt hat, lassen sich Unstimmigkeiten nicht umgehen.
Baruchs Mutter möchte nicht, dass ihr wohlerzogener Sohn aus reichem Hause in die mittellose Familie von Chani einheiratet. Das wäre nicht gut für das Ansehen ihrer Familie in der Gemeinde. Daher tut sie alles, um die Ehe zu verhindern.
Diese Szenen im Buch machen unglaublich viel Spaß und ich kann mir die unzufriedene Mutter Baruchs so richtig gut vorstellen. Ob das mit dem Verhindern klappt? Man wird sehen…

Eine weitere Hauptfigur im Buch ist die Rebbetzin, die Frau des Rabbis, deren Aufgabe es unter anderem ist, sich der Mädchen anzunehmen die bald heiraten werden und sie über die Riten der Religion aufzuklären.
Aufklären ist ein gutes Stichwort, denn Chani hat viele Fragen, was für eine angehende Braut sehr ungewöhnlich ist. Zwar haben die anderen Mädchen vielleicht die gleichen Fragen, aber sie trauen sich nicht, diese laut auszusprechen. Chanis Mutter, die für solche Fragen eigentlich zuständig ist, hat aufgrund ihrer zahlreichen Kinder keine Zeit, sich um diese Angelegenheit zu kümmern. Als Chani dann doch Gelegenheit findet, ihre Mutter bezüglich der Hochzeitsnacht zu fragen, bekommt sie nur sehr ausweichende Antworten, die ihr überhaupt nicht weiter helfen. Tacheles spricht hier niemand.
Chani ist nach wie vor vollkommen ratlos, was die Hochzeitsnacht betrifft.

Aber zurück zur Rebbetzin, die eigentlich gar nicht geplant hatte, sich in diese strenge, geregelte Welt zu begeben. Früher trug sie gerne Sneakers und bunte Kleidung, doch ihr Mann wurde nach und nach orthodoxer und sie spürt, wie sie sich innerlich dagegen aufzulehnen beginnt.
In manchen Situationen kommt ihre innerer Unmut besonders heraus, zum Beispiel, als ihr Mann ihr ausredet, das neu gekaufte Fahrrad in der Öffentlichkeit zu fahren, da es sich für eine Rebbetzin nicht schickt durch die Gegend zu radeln. Ihre Welt wird immer enger und das Absurde ist, dass sie die jungen Bräute auf ein Leben vorbereiten soll, dem sie sich innerlich widersetzt.

Mit “Die Hochzeit der Chani Kaufman” bin ich in eine ganz andere Welt eingetaucht, in eine Welt, die mich unglaublich fasziniert.
Nachdem ich dieses Buch gelesen hatte, konnte ich die ganze Nacht kein Auge zumachen, weil ich soviel über das Leben in einer jüdisch-orthodoxen Gemeinde nachdenken musste. Wie ist das, wenn man sich in solch engen Grenzen bewegt, wenn man einen Fremden heiratet und wenn die Gemeinschaft der Glaube und die Tradition das Wichtigste im Leben sind?
Und was ist, wenn einem der Glaube nicht den Trost bietet, den man braucht, wie im Falle der Rebbetzin? Kann man es sich leisten aus der Gemeinschaft, die einen ein ganzes Leben lang begleitet hat, einfach auszutreten?

Vor einiger Zeit gab es einen Film, der ebenfalls im jüdisch orthodoxen Milieu spielt. “An ihrer Stelle” von Rama Burshtein. Dieser Film hat mich damals ebenso beeindruckt und daher habe ich mich jetzt sehr gefreut noch mehr über diese Welt in “Chani Kaufman” zu erfahren. Zum Beispiel wußte ich nicht, dass die Frauen nach der Hochzeit eine Perücke tragen müssen, denn ihr wirkliches Haar darf nur vom Ehemann gesehen werden. Das finde ich so interessant!

Ich bin richtig versunken in diesem Buch und habe mit den Figuren so stark mitgefühlt, wie lange nicht mehr. Sie alle sind mit ihren Problemen so wunderbar beschrieben, dass ich mich gar nicht trennen wollte.
Ich jedenfalls bin hellauf begeistert und freue mich, dass dieses Buch 2013 für den Man-Booker-Prize nominiert gewesen ist.

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ISBN: 978-3-257-24430-4
Verlag: Diogenes
Erscheinungsjahr: 2018
Übersetzung: Kathrin Bielfeldt
Seiten: 464
Preis: 12,00 €

Dieses Paperback-Ausgabe dieses Romans ist 2015 ebenfalls bei Diogenes erschienen.


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8 thoughts on “Eve Harris: „Die Hochzeit der Chani Kaufman“
Anna

Hi,
ich habe das Buch vor Kurzem auch gelesen und war richtig begeistert. Irgendwie spukte es mir auch immer noch im Kopf herum und musste deshalb mal googeln, wie es eigentlich anderen Lesern gefallen hat und so bin ich auf deinen Blogpost gestoßen, der den Charme des Buches super wiedergibt 🙂

Liebe Grüße
Anna

Friederike

Liebe Anna,

vielen Dank!
Ja, mir ging es genauso, ich konnte die Nacht darauf gar nicht wirklich schlafen, da ich immer wieder über die Thematik nachdenken musste. Wir sind übrigens nicht die Einzigen, denen es so geht, was zeigt, dass dieses Buch etwas sehr Besonderes ist.

Viele Grüße,
Friederike

Manuela

Das Buch kommt auf alle Fälle auf meine Liste. Ein älteres und auch sehr schönes Buch zu dem Thema ist „Die Romanleserin“ von Pearl Abraham. Und es gibt die sehr charmante Einführung in das orthodoxe Judentum „Was ist kosher?“ von Paul Spiegel.
Viele Grüße
Manuela

    Friederike

    Oh prima, vielen Dank! Wird gleich nachgeschaut!

    Viele Grüße,
    Friederike

Pingback: Rezension Die Hochzeit der Chani Kaufman von Eve Harris – buchbunt.blog
Rose

Ich möchte anfügen, dass „orthodox“ ein Spektrum ist. Chanis Welt ist die Welt der Haredim, die ultra-orthodoxe Welt. Judentum ist nicht monolitisch, es gibt viele Facetten. Nicht jede jüdische Frau ist so unaufgeklärt wie manche Mädchen in der Ultraorthodoxie und nicht jede Orthodoxie schreibt ihren Mädchen vor, wen sie heiraten und wie lange sie ihren zukünftigen Bräutigam treffen. Bei Haredim ist es üblich, dass die Eltern auswählen, bei allen anderen orthodoxen Gruppen nicht. Und ja, eine orthodoxe Frau muss sich, wie eine religiöse muslimische Frau, nach der Hochzeit die Haare bedecken. Ob das aber mit einer Perücke geschieht, mit einem Tuch oder einem Baret, ist Sache der Mode und der jeweiligen Gruppenzugehörigkeit. Wie gesagt, es gibt viele Facetten.

Ully

Sehr viel über die jüdische Traditionen erfährt man auch in der Krimireihe von Faye Kellerman.

Viele grüße
Ully

Friederike

Vielen Dank für den Tipp!

Viele Grüße,
Friederike

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