Orkun Ertener: “Lebt”

Orkun Ertener: “Lebt”

Bei diesem Buch hatte ich nach zehn Seiten das Gefühl, etwas ganz Besonderes entdeckt zu haben. Einen richtigen Knaller – und für mich die perfekte Mischung aus Stieg Larssons “Verblendung”, Carlos Riuz Zafóns “Der Schatten des Windes” und Dan Browns “Illuminati”, jedoch einen Tick anspruchsvoller.

Das heißt, nicht ich habe ihn entdeckt, sondern ein Kunde, der mir von “Lebt” vorgeschwärmt hat und ich feststellte, dass dieses Buch schon seit geraumer Zeit in gebundener Form in meinem Regal stand. Ungelesen natürlich.
Jetzt ist das Taschenbuch erschienen, zum Glück, denn sonst wäre ich nie in den Genuß dieser tiefen, hochinteressanten und spannenden Geschichte gekommen.

Can Evinman (ein äußerst seltener Name) verdient sein Geld als Ghostwriter und arbeitet gerade mit einer Schauspielerin an ihrer Biografie. Doch dies gestaltet sich etwas schwierig, denn besagte Schauspielerin gibt nur sehr wenig von sich preis.
Schließlich wird er von einer ihrer Assistentinnen angesprochen, deren Großvater sage und schreibe 100 Jahre alt ist. Can wird allerdings oft angesprochen, denn viele Menschen glauben ein hochinteressantes Leben zu haben, das unbedingt in einem Buch verewigt werden müßte. Can weiß aus Erfahrung, dass hochspannend zumeist todlangweilig bedeutet.

In diesem Fall ist er jedoch gewillt sich die Lebensgeschichte anzuhören, denn 100jähriges “Material” hatte er noch nie. Er hätte mit allem gerechnet nur nicht damit, dass es sich bei besagtem Herrn um einen SS-Offizier handeln würde, der während des Zweiten Weltkriegs in Griechenland wütete und seine Gesinnung seit damals nicht geändert hat.
Einmal, so erzählt der Hundertjährige, sei sein Leben gerettet worden. Von einem Juden und er könne sich noch genau an den Namen erinnern: Chaim, Chaim Evinman.
Und wie heißt Can nochmal? Ja genau Evinman und bisher ging er davon aus, keine weitere Verwandtschaft zu haben, denn seine Eltern waren, als er acht Jahre alt gewesen ist, von einer Wattwanderung nicht mehr zurückgekommen und für tot erklärt worden.
Can beginnt nachzuforschen und sticht damit in ein Wespennest…

Das Ganze klingt zugegebenermaßen jetzt nicht vollkommen neu und innovativ, aber wir haben hier wirklich etwas ganz anderes vor uns, als einen 0815-Krimi.
Orkun Ertener ist Grimme-Preis-Träger und erfolgreicher Drehbuchautor. “Lebt” ist bisher sein einziger Roman, der es allerdings bei Erscheinen auf Platz eins der KrimiZEIT-Bestenliste schaffte. Das ist eine Auszeichnung, denn dort tummeln sich bekanntermaßen besondere Kriminalromane mit literarischem Anspruch.
Ich muß auch gestehen, dass ich mich beim Lesen teilweise sehr konzentrieren und mußte, um die historischen Zusammenhänge zu verstehen, zumal das Ganze schon komplex ist. Auch habe ich einiges im Internet recherchiert, was allerdings gut ist, denn das ist für mich ein Zeichen dafür, dass mich ein Thema vollkommen gepackt hat. 

Des Weiteren ist es so, dass “Lebt” eben nicht nur ein Krimi ist, sondern ein Buch, das mich weitergebildet hat und das schätze ich sehr. Eine gute Geschichte ist schön, aber wenn ich etwas über ein mir unbekanntes Thema erfahre, so freue ich mich noch mehr darüber.
Cans Weg führt ihn nach Griechenland und auf die Spur der “Dönme”, von welchen ich bisher noch absolut nichts gehört hatte.

“Dönme” nennt man die Mitglieder einer jüdischen Religionsgemeinschaft in der Türkei, die daran glaubten, dass der Messias bereits erschienen sei und zwar in der Person Schabbtai Zvis, der 1626-1676 lebte.
Das Besondere an ihm war, dass er zum Islam übertrat und diesen nach außen hin praktizierte, in Wahrheit aber weiter den jüdischen Traditionen und Regeln folgte. Nach seinem Tod kam es zur Massenkonversion in Saloniki, weshalb die Stadt auch zum Zentrum des Kults wurde.

Vor der Lektüre wußte ich weder etwas über den griechisch-türkischen Bevölkerungsaustausch, noch von den Verschwörungstheorien die sich um die “Dönme” ranken. Zum Beispiel munkelt man, dass Atatürk ebenfalls ein Dönme gewesen sei.

Wer sich jetzt die Frage stellt, was mit den “Dönme” während des 2. Weltkriegs geschehen ist, nach außen hin waren sie ja Muslime und hielten ihre wahre Religion geheim, der gehe hin und lese dieses spannende und informative Buch.
Ich wünsche viel Vergnügen.

» zur Leseprobe*


ISBN:  978-3-596-19651-7
Verlag: Fischer
Erscheinungsjahr: 2016
Preis: 12,00 €

Die gebundene Ausgabe dieses Buches ist 2014 im Scherz Verlag erschienen.


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6 thoughts on “Orkun Ertener: “Lebt”
Tausend Leben

So, jetzt habe ich auch deine ganze Rezension gelesen und muss sagen: Morgen geht’s zum Buchladen ???… Danke für den Tipp, denn von dem Buch hatte ich noch nie gehört. Ich finde es auch genial, wenn ein Buch mich dazu anregt, mehr über ein Thema erfahren zu wollen. Danke auch für die tolle Rezension, die neugierig macht ohne zu Spoilern ???.

Liebe Grüße
Nadine

    Friederike

    Liebe Nadine,

    vielen Dank.
    ich bin gespannt, was Du zum Buch sagen wirst und ich war nach den begeisterten Worten des Herrn, der mir den Tipp gab auch erstmal skeptisch, denn wenn jemand so ins Schwärmen kommt, neige ich dazu meine Erwartungen extrem hoch anzusetzen und dann enttäuscht zu sein.
    Aber in diesen Falle war es nicht so. Darüber habe ich mich sehr gefreut. Endlich einmal wieder ein richtig spannendes Buch.

    Viele Grüße,
    Friederike

Manu

Oh wie toll, das schenke ich meinem Bruder zum Geburtstag. Hätte ich mal dich gefragt statt die Buchhändlerin im Rombach…

    Friederike

    …dann bekommt er eben zwei Bücher :).

Literaturreich

Das klingt sehr spannend. Danke für den Tipp!

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