Sarah Kuttner: “180° Meer”

Sarah Kuttner: “180° Meer”

Ein Roman von Sarah Kuttner zu lesen ist für mich ein Abtauchen in Gedanken, die zum Teil auch die meinigen sein könnten. Ich fühle mich wohl und sehr entspannt in ihren Texten, sie kriegt mich einfach. Mit “180° Meer” ist ihr dieses Kunststück wieder gelungen.

Dabei ist es so, dass die Geschichten die sie erzählt, gar nicht im Vordergrund stehen. Klar, ein roter Faden ist schon wichtig, aber es geht viel mehr um die Art und Weise, wie die Autorin die Zerrissenheit ihrer Protagonisten zum Ausdruck bringt.

In 180° Meer geht es um Jule, die Mitte dreißig ist und zusammen mit ihrem Freund Tim in Berlin lebt. Geldsorgen hat sie keine, sie hat sich ein Polster zurückgelegt – ein Polster, welches ihr Vater für sie angespart hat. Doch dieses Geld rührt sie nicht an und das hat einen Grund.
Das Verhältnis zum Vater ist schlichtweg nicht vorhanden, denn er hat seine Familie früh verlassen und Jule mußte sich um die stets traurige Mutter und den kleinen Bruder kümmern. Die Mutter behandelte Jule dabei wie eine Erwachsene und belastete sie mit ihren Ängsten und Sorgen und sagte zu Jule zum Beispiel unter anderem den Satz: „Wenn ich Dich [Jule] nicht hätte, würde ich mich umbringen.”
Toll, das baut ja gar keinen emotionalen Druck auf.
Das Verhältnis zur Mutter ist übrigens bis heute nicht besser geworden und Jule drückt ihre Anrufe sehr oft weg, denn die Gespräche sind keine Gespräche. Es sind Monologe der Mutter darüber, wie schwer sie es im Leben hatte.

Aber selbst als der Vater noch anwesend war, war Jules Leben nicht wirklich besser, nur anders. Denn ihm war es immer wichtig, auf etwas hinzuarbeiten, etwas zu können. Messbare Leistung zu erzeugen war unabdingbar. Dass Jule schon früh lesen konnte zählte nicht. Vorlesewettbewerbe waren so ein Messinstrument und sowieso wurde alles gemessen: Der Waldspaziergang mittels eines Hindernisparcours zum Beispiel.
Das ist anstrengend und führt zu Enttäuschungen. Auf beiden Seiten. Der Vater war enttäuscht darüber, dass seine Tochter nicht seinen Vorstellungen entsprach und Jule war traurig darüber nicht seinen Anforderungen zu genügen. Ihn nie stolz machen zu können und eine Enttäuschung für ihn zu sein.
Bis heute meidet Jule jegliche Herausforderung und hat kein kein richtiges Ziel im Leben. Der einzige Ort, an dem sie sich geborgen fühlt, ist die Achselhöhle ihres Freundes, denn “[…] draußen ist eine Welt, die mir zuwider ist. […]in der jeder eine Maske auf hat und Aufmerksamkeit will. Eine Welt, in der erwartet wird, dass man empathisch ist, dass man sich Mühe für andere gibt.” Eine Welt in der Jule einfach nicht funktioniert.

Ich habe das Gefühl, dass Jules Empathie schon in der Kindheit aufgebraucht worden ist, da sie ständig dazu gezwungen war Mitleid mit ihrer anstrengenden und fordernden Mutter zu haben. Irgendwann kam einfach der Punkt, an dem Schluss war mit dem Mitfühlen und den Gesprächen über jegliche emotionale Regung. Man muß nicht über alles reden und alle Gefühlsknoten lösen: “Knoten halten Sachen zusammen! Es ist nicht immer sinnvoll, Knoten sofort zu lösen. Vielleicht müssen sie ein bisschen verknotet bleiben, um sich zu schützen.”.
Genau das tut Jule. Sie schützt sich vor der Außenwelt, in dem sie sich verknotet und  in dem sie sich weigert, Leistung zu erbringen und Ziele zu haben.
Aber ist das schlimm? Muß man unbedingt Ziele haben im Leben? Gilt man nur als “etwas”, wenn man was erreicht hat (“Mein Haus, mein Boot, mein Auto”)?.
Für Jules Vater jedenfalls  ist das extrem wichtig, für Jule eben nicht (beziehungsweise hat sie bei diesem Thema einfach dicht gemacht) und das fällt dem Vater schwer zu akzeptieren, nein es ist ihm schlichtweg nicht möglich, das zu akzeptieren.

Jule sagt: “Ich bin nie auf dem Weg zu einem Ziel. Ich bin einfach. Hier und jetzt und ohne Anstrengung, ohne Risiko.” Ist das nicht der Zustand, nach dem wir eigentlich alle streben? Das einfache Sein, ohne das Gefühl Erwartungen entsprechen zu müssen, ohne Angst zu haben, was die Zukunft so bringen wird. Oder anders ausgedrückt: Einfach zufrieden mit sich selbst und dem zu sein, was ist?

Für Jule allerdings ist das einfache Akzeptieren des Ist-Zustandes ein Schutzmechanismus. Veränderungen bergen immer ein Risiko. Das Risiko etwas nicht zu schaffen und folglich enttäuscht von sich zu sein.
So singt sie einfach weiter in Bars und findet es ok, obwohl es ihr keinen sonderlichen Spaß und sie sich über ihren Mitstreiter Daniel lustig macht. Was heißt lustig macht – er strebt danach, mehr zu erreichen, als in dieser Bar Klavier zu spielen.
Auf diese Bemühung erfolgreich zu sein und somit das eigene Lebens zu verändern reagiert Jule allergisch. Auf Fleiß, Beharrlichkeit und Ausdauer – Eigenschaften, die sie nicht besitzt. Wenn sie mal etwas länger in sich rein hört, dann kommt das Gefühl in ihr auf, dass sie neidisch auf Menschen sein könnte, die eben diese Eigenschaften besitzen, die sie nicht hat. Folglich ist sie enttäuscht von sich und das gilt es zu verhindern. Enttäuschungen hat sie schließlich genug erlebt.

Dieser innere Konflikt, dieses “Bei anderen nicht mögen, was man selber an sich nicht mag” ist sehr tiefsinnig, klar und einfach wunderbar intensiv herausgearbeitet. Man fühlt mit Jule mit und kann ihre Gedanken und Gefühle vollkommen nachvollziehen und verstehen. Sarah Kuttner drückt da einfach die richtigen Knöpfe.
Dieses ambivalente Gefühl des “Mit dem Zufrieden sein zu wollen, was man hat” einerseits und dem “Andere durch seine Haltung enttäuschen zu können” ist wirklich spürbar. Aber wie kann Jule jetzt  aus dieser Denk- bzw. Fühlfalle herauskommen? Wie kann sie das Gefühl mit sich und der Welt in Einklang zu sein erreichen?

Das ist natürlich ein Stück Arbeit und mir fällt gerade auf, dass ich ganz impulsiv “erreichen”geschrieben habe – also ein Ziel definiert habe, dessen Nicht- erreichen Enttäuschungen hervorrufen könnte. Das war ja nicht Sinn der Überlegung. Das “Erreichen” für Jule zu streichen, oder abzumildern war ja die Idee.
Vielleicht hilft es ja, wenn man das ganze umformuliert, oder dazu einfach Jules eigene Worte benutzt: “Ich habe schon wieder kein Ziel, aber ein bisschen Bock auf den Weg.” So finde ich es ok. Und “ok” ist vollkommen genug.

» zur Leseprobe


ISBN: 978-3-596-03576-2
Verlag: Fischer
Erscheinungsjahr: 2017
Preis: 9,99 €

Die gebundene Ausgabe dieses Buches ist 2015 ebenfalls bei Fischer erschienen.


Das könnte Dir vielleicht auch gefallen: 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

Archive