Saskia de Coster: “Wir & ich”

Saskia de Coster: “Wir & ich”

In diesem Jahr sind die Niederlande und Flandern Gastland der Buchmesse in Frankfurt.
Saskia de Costers Roman ist die erste Neuerscheinung in diesem Frühjahr, die ich zu diesem Thema lese und wenn alle neuen Bücher aus Flandern so gut sind, werde ich in diesem Jahr noch viel zu tun haben.

Thema dieses Romans ist das Leben einer wohlhabenden Familie, die von außen her perfekt aussieht – in Wirklichkeit allerdings alles andere als das ist.

Mieke und Stefaan wohnen auf “dem Berg”. Das heißt schon mal was, denn es gibt klare hierarchische Unterschiede zwischen den Bewohnern des Tales und den Bewohnern des Berges. Unten spricht man Dialekt, oben selbstverständlich nicht. Wo käme man denn da hin?

Die Gärten auf dem Berg sind tadellos. Die Häuser natürlich auch. Auch von innen.
Mieke kämmt sogar die Fransen ihrer Teppiche. Am liebsten mehrmals täglich, die Teppiche sind schließlich wertvoll und außerdem beruhigt diese Tätigkeit, zumal Mieke, seit das Kind da ist, zu Hause bleibt.

Ja, das Kind. Das ist auch so ein Thema. Eigentlich wollten sie beide eins, aber Stefaan brauchte eins “um sich komplett zu fühlen”. Mieke hatte da so ihre Zweifel, sie wollte kein Kind in eine Welt, die sich ständig zum Schlechten verändern kann, setzen. Zwei Monate lang wußte sie schon von der Schwangerschaft, bevor sie es Stefaan überhaupt sagte. Stefaan wußte auch, dass Mieke an das “A-Wort” dachte und zitierte – wie listig – Miekes Vater: “Kinderlose Leute sind traurige Leute”. Was soll man dagegen schon sagen.

Jetzt ist der Tag der Geburt jedenfalls gekommen und Stefaan, Sohn eines Landwirts und jetzt mit vierzig Jahren Manager eines Pharmaunternehmens, hat eine Kamera gekauft. Eine sehr teure natürlich, das ist wichtig. Eigentlich das Wichtigste. Man muß zeigen was man hat und jetzt muß er die Geburt filmen, den Moment des Komplettwerdens festhalten.
Für sein Mädchen hat er auch Pläne: Sie soll Topmanager oder Topberater werden. Auf jeden Fall etwas mit “Top”, ganz klar.
Ob Sarah diesen Erwartungen entsprechen kann? Ein schweres Los.

Wie viele Teppichfransen jedenfalls Mieke kämmen muß, damit sich ihre Nerven während Sarahs Pubertät beruhigen, ist schon bald nicht mehr zählbar. Sie kämmt sich die Seele aus dem Leib – und eigentlich nicht erst seit der Pubertät, das fing, wenn wir ehrlich sein wollen, schon relativ bald nach der Geburt an.
Was auch schon bald danach anfing war Miekes Planungswahn: Besuche müssen zwei Wochen vorher angemeldet werden. Auch Übernachtungen außer Haus.
Wir wollen Mieke jetzt nicht mangelnde Flexibilität unterstellen – nichts läge uns ferner. Aber es geht dezent in diese Richtung.
Sarahs Leben im Krümel-freien Haus ist jedenfalls etwas eingeschränkt, zumal Mieke findet, dass übertrieben viel Kontakt mit anderen nicht sinnvoll sei. Auch Naschen ist verboten, denn Nascherein machen dick “und wer dick ist hat weniger Chancen im Leben.”

Ansehen ist Mieke wichtig und daher ist es nicht verwunderlich, dass die Tatsache verheimlicht werden muß, dass ihr spontaner und extrovertierter (von wem hat er das nur?) Bruder sie plötzlich am Wochenende zu besuchen beginnt, da er “Urlaub” hat. Urlaub vom Gefängnis.
Nach den Besuchen müssen jedenfalls viele Fransen gekämmt werden.
Stefaan macht sich so seine eigenen Gedanken, muß er auch, denn im Job könnte es brenzlig werden. Er hat da was gemauschelt. Fransen kämmen wird da nicht helfen…

Saskia de Coster ist genau die Art von Roman gelungen, die ich liebe: Innenansichten von Familien, die von außen perfekt sind und in deren Inneren es kriselt.
Sehr cool und modern erzählt Saskia de Coster außerdem. Jonathan-Franzen-like, würde ich sagen, natürlich zu seinen Hoch-Zeiten, nicht gemessen an seinem neuesten Buch, das meiner Meinung nach mit Werken wie “Freiheit” nicht mithalten kann. Aber ich schweife ab.

Ich stelle mir jedenfalls das Aufwachsen im” Haus auf dem Berg” sehr schwierig vor – mit einem Vater, der der Ansicht ist, sein “Human Touch” sei gut für die Bilanz, der aber auch mal richtig ausrasten und einem Kollegen einen Zahn ausschlagen kann. Und einer Mutter, deren Verhalten fast an Hysterie grenzt und die die Polizei rufen möchte, weil sie den Kuchenheber nicht findet.

Sarah jedenfalls möchte nicht so werden, wie ihre Eltern. Wer könnte es ihr verdenken.
Ob sie doch so werden wird? Wir werden es sehen, denn wir dürfen Sarah von der Geburt bis zum Alter von 32 Jahren begleiten. Das ist sehr interessant, vor allem, wenn es in einem so schön kühlen und dezent ironisch gehaltenen Tonfall geschrieben ist, wie in vorliegendem Werk.

Ich hoffe, daß auch die anderen Bücher von Saskia de Coster übersetzt werden, denn in diesem Tonfall könnte ich ewig weiter lesen.

» zur Leseprobe


ISBN:  978-3-608-50156-8
Erscheinungsjahr: 2016
Verlag: Tropen
Preis: 22,95 €


Das könnte Dir vielleicht auch gefallen:

One thought on “Saskia de Coster: “Wir & ich”
Buchstabenträumerin

Hui, das klingt sehr, sehr gut! Ich liebe ja auch Bücher dieser Art – die das alltäglich und normal und erfolgreich scheinende Leben einer Familie betrachten und es vor den Augen des Lesers regelrecht „sezieren“, bis alles auf den Kopf gestellt ist 🙂
Liebe Grüße,
Anna

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

Archive