Bücher, in welchen ich etwas über Unbekanntes erfahren kann, schätze ich nicht nur sehr, sondern kann sagen, dass dies einer der Gründe ist, weshalb ich so gerne lese.
Über das Leben der Mormonen in den USA wußte ich bisher nichts – dies hat sich nun dank “Loretta” geändert.
Loretta ist 15 Jahre alt, lebt in den USA der 70er Jahre und zieht nachts heimlich los, um ihren Freund zu treffen. Das wäre jetzt für einen Teenager nichts Ungewöhnliches, doch Lorettas Familie gehören den Mormonen an. Ihr Freund jedoch nicht – eine öffentliche Beziehung ist schlichtweg undenkbar.
Es kommt, wie es kommen muß: Lorettas Vater entdeckt die nächtlichen Ausflüge seiner Tochter und beginnt gegenzusteuern, indem er Loretta verheiratet, was in den strenggläubigen Kreisen nicht unüblich ist.
Jedoch ist es in diesem Fall verwunderlich, zumal sich der Vater eigentlich von dem orthodoxen Glaubenszweig losgesagt hatte.
Im Alter jedoch, Loretta war eine Nachzüglerin, wendet sich der Vater wieder dem Glauben zu und verheiratet nun seine Tochter an einen sehr gläubigen (und seiner Ansicht nach hochrechtschaffenden) Mann, der bereits verheiratet ist und mehrere Kinder hat.
Loretta wird seine Zweitehefrau werden, zumal ihr neuer Ehemann Dean polygam lebt, was bei vielen Mormonen üblich ist.
Dass Loretta über die Entscheidung ihres Vaters nicht glücklich ist, versteht sich von selbst.
In ihrer neuen Familie muß sie feststellen, wie liberal sie doch aufgewachsen ist, denn in ihrem neuen Zuhause geht es sehr streng zu.
Ruth, die erste Ehefrau Deans, führt das Regiment mit strenger Hand. Ihr ist klar, dass sie es akzeptieren muß, Loretta im Haus zu haben, doch stellt sich schnell heraus, dass auch sie, obwohl sie es sich ständig einredet, nicht vor Eifersucht gefeit ist.
Zwar hat Dean versprochen, Loretta in Ruhe zu lassen und abzuwarten, bis diese 16 Jahre alt geworden ist, bevor er mit ihr die Ehe vollzieht, doch Loretta ist jung, hübsch und begehrenswert.
Die einzige Möglichkeit für Ruth, sich zu Rächen ist, ihre Macht gegenüber Loretta auszuspielen und sie spüren zu lassen, dass sie nicht willkommen, sondern nur geduldet ist. Ein harter Start für Loretta und Besserung ist nicht in Sicht, zumal ihr neuer Mann zum Beispiel die Fenster vor ihrem Zimmer hat vernageln lassen, um nächtlichen Ausflügen ihrerseits Vorbeuge zu leisten.
Was ich an Shawn Vestals Roman bewundere ist, dass er seine Figuren nicht in gut und böse unterteilt. Klar, Ruth ist nicht nett zu Loretta und auch nicht zu ihren Kindern, doch gelingt es dem Autor plausibel zu machen, dass auch sie ein Mensch ist, der Gefühle und Gründe dafür hat, weshalb er so lebt, wie er eben lebt.
Ruth ist in diese Welt hineingeboren worden, hat so manches erlebt und ist fest davon überzeugt, dass Gott viel Freude empfindet, wenn er ihr Prüfungen auferlegt und sie diese erfolgreich meistert. Eine dieser Prüfungen ist zum Beispiel, dass sie das Selbstmitleid ihres Mannes ertragen muss.
Dass sie jedoch nun die Anwesenheit Lorettas (eine weitere Prüfung) ertragen muss, ist auch für Ruth, die ihre Gefühle stets unterdrückt, ein hartes Los. Aber sie wird es ertragen.
Tja und dann steht eines Tages Lorettas Freund vor der Tür. Er hat sich von Dean anstellen lassen und beabsichtigt natürlich gemeinsam mit Loretta zu fliehen, aber erst, wenn er genug Geld verdient hat und bis dahin ist es noch ein weiter Weg.
Loretta ist sehr überrascht, doch ist sie sich ist sich aber inzwischen nicht mehr ganz so sicher, ob sie überhaupt mit diesem Mann fliehen will…
Die beiden Hauptthemen dieses Buches sind das Erwachsenwerden, falsche Erwartungen und der Glaube. Der Autor weiß wovon er schreibt, denn auch er ist in einer Mormonen – Familie aufgewachsen und verließ die Gemeinde als Erwachsener.
Er kennt ihn bestimmt, den Zweifel am Glauben und den Wunsch einfach wegzugehen, aber nicht zu wissen, wohin. Wie Jason, eine weitere Hauptfigur des Romans.
Jasons Mutter ist Konvertitin und bemüht, alles richtig zu machen. Allerdings ist sie weit liberaler, als Dean und hat lange gegen die Vorurteile ihrer eigenen Eltern gekämpft, dass alle Mormonen Polygamisten seien. Denn sie und ihr Ehemann leben monogam.
Ihre Angst jedoch, dass alle Zweifler recht haben könnten, flammt erneut auf, als sie Dean und seine neue Familie kennen lernt und vor allem, als Loretta auftaucht, die als Ruths Cousine vorgestellt wird, obwohl allen klar ist, dass Dean sie geheiratet hat.
Jason jedenfalls ist es leid, das tägliche frühe Aufstehen, zu dem ihn seine Mutter jeden Tag zwingt. Und die Regeln an die er sich halten muß hasst er sowieso. Er ist eben in der Pubertät. Der einzige Lichtblick für ihn ist Loretta, in die er sich verliebt, ohne je ein Wort mit ihr gewechselt zu haben.
Als ihm bewußt wird, dass auch Loretta einfach nur weg möchte, sieht er seine Chance gekommen. Ihm ist allerdings nicht klar, dass Loretta eigentlich einen Freund hat, der ebenfalls mit ihr abhauen möchte.
Die Lage ist verzwickt und wir alle müssen uns die Frage stellen, was die Männer von Loretta wollen, außer sie zu besitzen. Sie alle kennen sie nicht wirklich, sie lieben nur eine Idee von ihr.
Was Loretta möchte, danach fragt niemand. Auch nicht ihr Freund, der ja mit dem Glauben gar nichts am Hut hat. Sind etwa alle Männer gleich? Wir werden es sehen…
Ich habe in “Loretta” ein Buch gefunden, das mich bewegt und begeistert hat und in dem ich eine neue Seite der Welt kennen gelernt habe.
Shawn Vestals Stil ist klar und straight, also genau das, was ich an der amerikanischen Literatur schätze: Keine Schnörkel, keine blumigen Ausführungen.
Was will ich mehr.
ISBN: 978-3-0369-5745-6
Verlag: Kein & Aber
Erscheinungsjahr: 2017
Übersetzung: Verena Kilchling
Preis: 24,00 €
Das könnte Dir vielleicht auch gefallen:
- Deborah Feldman: Unorthodox
- Eve Harris: Die Hochzeit der Chani Kaufman
- Emma Cline: The Girls
4 thoughts on “Shawn Vestal: „Loretta“”