Affinity Konar: “Mischling”

Affinity Konar: “Mischling”

Bei meiner Recherche zu diesem Roman ist mir aufgefallen, dass Affinity Konar eine der wenigen jungen zeitgenössischen Autorinnen zu sein scheint, die sich an das Thema des Holocaust herantrauen. Wenn ich ehrlich bin, so muss ich zugeben, dass ich so meine  Bedenken hatte.
Kann das funktionieren? Kann eine Schriftstellerin, die über keine direkten Erfahrungen aus dieser Zeit verfügt, über dieses Thema schreiben?

Nach der Lektüre dieses Buches weiß ich: Ja, das kann sie!

Musik begleitet Perle und Stasias Ankunft an der Rampe von Auschwitz.  Musik, die in die Irre führt, denn Sie soll dem Neuankömmlingen vorgaukeln, dass sie in Sicherheit sind.
Dass das Gegenteil der Fall ist, wissen wir alle.
Die Rampe ist auch der Ort, an welchem die Zwillinge dem Mann begegnen, den sie fortan “Onkel” nennen werden: Josef Mengele. In Stasia und Perle hat er ein neues Zwillingspaar für seine “Forschungen” gefunden, was ihn sehr freut. Worüber er weniger begeistert ist, ist die Tatsache, dass die beiden zwar blondes Haar, aber eben braune Augen haben – was er darauf zurückführt, dass die beiden Mischlinge sind.

Zeitzeugen berichten, dass Mengele sich quasi darum gerissen habe, die Selektionen an der Rampe persönlich vorzunehmen, um sich Versuchspersonen für seine Experimente zu sichern. Zu diesen zählten: Zwillingsforschung, angeborenen Anomalien, die Krankheit Noma (“Wasserkrebs”) und Menschen mit unterschiedlichen Augenfarben, zumal er Experimente bezüglich der Augenfarbe vornahm.
Das bekommt eines der beiden Mädchen im Roman zu spüren, als Mengele ihr eine Flüssigkeit in die Augen träufelt, die sie erblinden lässt.
Während seiner Experimente pfeift er gerne Melodien und auch dies ist nicht erfunden, sondern basiert auf den Berichten Überlebender, die bestätigten, dass der stets gepflegte Arzt besonders gerne Melodien aus Rigoletto pfiff.

Dass Affinity Konar für dieses Buch sehr intensiv recherchiert hat, habe ich erst nach der Lektüre gemerkt, als ich mich selbst an den Rechner setzte und Berichte über Mengele las. Im Roman ist es zum Beispiel so, dass ein Zwilling eine Tür im Lager aufreißt und plötzlich viele Augen vor sich hat. Menschliche Augen.
Erst im Nachhinein habe ich gelesen, dass Zeugen von präparierten Augen berichteten, die Mengele an das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik (KWI-A) nach Berlin schickte.
Dort arbeitete Otmar Freiherr von Verschuer, der Doktorvater Mengeles, der nicht nur die nationalsozialistische Rassenhygiene unterstütze, sondern auch Gutachten zu zum Beispiel Zwangssterilisationen nach den Nürnberger Gesetzen ausstellte.
Mengele galt als eine Art Lieblingsschüler Verschuers. Dieser war es auch, der sein Interesse für die Themen Erbbiologie, Rassenhygiene und Zwillingsforschung weckte.

Für Anomalien begeisterte sich Mengele ebenfalls. Im Roman gibt es in Mengeles “Zoo”, in welchem die Zwillinge leben und Experimente über sich ergehen lassen müssen, auch einen Jungen, dessen Zwillingsbruder bereits ermordet worden ist.
Seltsamerweise ist er selbst noch am Leben, denn normalerweise hat Mengele an einzelnen Zwillingen kein Interesse. Er kann nicht mehr forschen, wie es sich verhält, wenn er dem einen etwas spritzt und dem anderen nicht. Daher wird der übrige gebliebene Zwilling umgebracht.
In besagtem Fall jedoch, lebt der zweite Zwilling und der Leser erfährt auch weshalb: Er hat am Rücken eine Art “Schwänzchen”. Eine Anomalie, die ihn bisher vor dem Tode bewahrt.

Ebenso verhält es sich bei einer Gruppe Kleinwüchsiger, die es im Roman gibt und die es auch in Wirklichkeit gegeben hat: Die Artistenfamilie Ovitz, bei deren Anblick Mengele “Da habe ich ja Arbeit für zwanzig Jahre” ausrief.
Im Gespräch mit der Journalistin Annette Großbongardt erzählt die 2001 verstorbene Perla Ovitz von Mengele und den grauenhaften Experimenten, die er an ihr und ihrer Familie vornahm.
Ob Affinity Konar eine ihrer Protagonistin in Anlehnung an Perla Ovitz “Perle” genannt hat, oder ob dies nur ein Zufall ist, darüber kann ich nur spekulieren.
Mengele drehte auch einen Film über die Familie Ovitz, der allerdings bis heute verschwunden ist. Vielleicht hat er ihn im Januar 1945 mitgenommen, als er mit all seinen Aufzeichnungen verschwand und nie gefasst worden ist. Er starb 1979 in Brasilien beim Baden aufgrund eines Schlaganfalls.  

» zum Artikel über die Familie Ovitz im Spiegel

Wer für Mengele also “besonders” war, hatte also eine größere Chance zu überleben, bzw. länger zu leben. Eine noch größere, als “normale” Zwillinge, denn bis zu seiner Position in Auschwitz hatte Mengele nicht die Gelegenheit, an gleichzeitig verstorbenen Zwillinge zu forschen.
Jetzt ermordete er die Kinder gleichzeitig und schickte die präparierten Augen an Verschuers Mitarbeiterin Karin Magnussen, damit diese sie histologisch erforschen konnte, so schreibt es die Journalistin Barbara Nolte im Tagesspiegel.

Eine der wenigen Zwillinge, die Mengeles Experimente überlebt haben ist Eva Mozes Kor, der Affinity Konar im Nachwort ihres Romans dankt. Sie gründete die Organisation Children of Auschwitz-Nazi’s Deadly Lab Experiments Survivors (C.A.N.D.L.E.S.), konnte 122 Überlebende der Zwillingsexperimente Mengeles ausfindig machen und kämpft bis heute darum, die Hintergründe der Menschenversuche in Erfahrung zu bringen.
In einem Interview erzählt sie, dass die Kinder in Mengeles Baracke keinen Kontakt zueinander hatten, da es in einem Überlebenskampf wie in Auschwitz keine Freundschaft gegeben habe.
Gesprochen wurde in der Baracke sehr selten. Eva Mozes Kor hat folgende Erklärung dafür: Sie alle hatten keine Kontrolle mehr über ihr eigenes Leben und flüchteten sich an jenen Ort, an welchem dies noch möglich war: In ihre eigene Gedankenwelt.
Wenn man etwas laut ausspreche, so Mozes Kor, laufe man immer Gefahr, eine Reaktion zu bekommen, die man nicht aushalten könne. Daher sei jeder für sich geblieben.
Nur die Bindung der Zwillinge untereinander sei sehr stark gewesen.

» zum Artikel über Eva Mozes Kor im Tagesspiegel

In “Mischling” ist es etwas anders. In diesem Roman bauen Stasia und Perle so etwas wie Freundschaften auf. Zum Beispiel mit der 17jährigen Bruna, die rote Augen hat und mit Peter, den Mengele wahrscheinlich wegen seines arischen Aussehens am Leben lässt.
Er agiert sozusagen als Botenjunge Mengeles und darf sogar “Kanada” sehen, also den Teil des Lagers, in welchen Pelze, Uhren und dergleichen mehr eingelagert werden. Stasia kann ihn zunächst nicht leiden, während Perle spürt, dass sie ihm zugetan sein könnte und sich eine leise Geschichte zwischen ihnen entspinnt.
Das sind sie, die raren lichten Momente, in diesem Werk. Die Momente der Zwischenmenschlichkeit.

Offen kann diese nicht oft gezeigt werden. Aber sie kann anklingen: Im Buch gibt es einen Mann, der im Zwillingslager eingesetzt ist und versucht dem Ort etwas Menschliches zu geben, indem er jedem Kind einbläut, sich die Namen eines jeden Kindes zu merken. Keines dürfe vergessen werden. Er ist es auch, der Zwillingspaare “erschafft”, um sie vor dem Tod zu retten bzw. um ihr Leben zu verlängern.
Solche Menschen hat es gegeben. Dies berichtet zum Beispiel Frieda Tenenbaum, die das Konzentrationslager überlebte, weil eine SS-Frau Friedas Mutter fragte, ob sie Frieda und Friedas Cousine retten wolle und die beiden in Mengeles Zwillingsbaracke brachte.
Frieda Tennenbaum sagt, dass sie glaube, dass dieser Frau klar gewesen sein müsse, dass sie und ihre Cousine keine Zwillinge gewesen seien.
Warum diese Frau so handelte weiß Frieda Tennenbaum nicht.
Für Experimente, über welche keines der Kinder in der Baracke sprach, wurde sie nie geholt.

» zum Interview mit Frieda Tennenbaum im Spiegel

Von Zwischenmenschlichkeit untereinander berichtet auch Jehuda Bacon, der Auschwitz überlebt hat. Zunächst war er in Theresienstadt und wurde zusammen mit anderen Jungs nach Auschwitz-Birkenau verlegt, um dort zu arbeiten.  Dass er nicht alleine war, war sein Glück, denn die Jungs verband etwas, dass es sonst in Auschwitz nicht gegeben habe: Kameradschaft.
Bei den Todesmärschen nach der Befreiung Auschwitz wurde jeder erschossen, der zurückblieb und auch hier half man sich gegenseitig, wenn einer nicht mehr konnte.
Jehuda Bacon berichtet auch, dass die Russen es nach der Befreiung gut meinten und den Überlebenden Essen gaben, das jene nicht verdauen konnten und daran starben.  Auch davon erzählt und Affinity Konar in ihrem Roman.

» zum Interview mit Jehuda Bacon im Spiegel

Affinity Konars Roman hat bei mir viel angestoßen, besonders den Wunsch, mehr zu lesen.
Seit jeher schon beschäftige ich mich mit dem Thema des Holocaust und habe so manchen Bericht bzw. Roman, wie zum Beispiel “Das Mädchenorchester von Auschwitz” (Fania Fénelon) oder “Der Tod ist mein Beruf” (Robert Merles Roman über den Lagerkommandanten Rudolf Höß) gelesen.

Über Mengele jedoch wußte ich bisher nicht wirklich viel. “Mischling” hat mich zur Recherche angeregt.
Dabei ist mir nach und nach klar geworden, wie stark sich Affinity Konar mit dem Holocaust auseinandergesetzt hat.

Anders wäre es auch nicht möglich gewesen, solch ein Buch zu schreiben. Gerade bei diesem Thema braucht ein Roman eine Fülle an Fakten, um als erzählerischer Text glaubhaft zu sein und ernst genommen zu werden.
Diese Mischung ist Affinity Konar gelungen, was auch an ihrer kraftvollen Prosa liegt, die dem Unaussprechlichen eine Stimme gibt.

Ich jedenfalls bin der Autorin sehr dankbar dafür, dass sie mich dazu angestoßen hat, wieder mehr über den Holocaust und Auschwitz zu lesen.
Dies halte ich für sehr wichtig, damit nie vergessen wird, zu was Menschen fähig sein können.
Auch wenn man es nie begreifen wird.

“…trotzdem Ja zum Leben sagen” von Viktor E. Frankl liegt schon auf meinem Nachttisch.

»  zur Leseprobe von „Mischling“

» zum Interview mit Affinity Konar im Spiegel


ISBN: 978-3-446-25646-0
Verlag: Hanser
Erscheinungsjahr: 2017
Übersetzung: Barbara Schaden
Originaltitel: Mischling
Seiten: 368
Preis: 24,00 €


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2 thoughts on “Affinity Konar: “Mischling”
Katharina

Schon allein diese Rezension ist sehr informativ, danke dafür!

    Friederike

    Vielen Dank.
    Über diesen Kommentar freue ich mich sehr.

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