János Székely: “Verlockung”

János Székely: “Verlockung”

Vor ein paar Jahren mußte ich feststellen, dass “Verlockung” nicht mehr aufgelegt wird, was mich ich dezent schockte, denn dieses Buch zählt nach wie vor zu meinen All-Time-Favourites. Wobei ich sagen muß, dass ich dieses Werk ohne meinen Mentor und ehemaligen Kollegen Oskar niemals entdeckt hätte – wie so manch anderes großartiges Buch.
Umso glücklicher bin ich, dass Diogenes sich dazu entschlossen hat, eine Neuauflage von „Verlockung“ herauszubringen, die vor Kurzem erschienen ist.

“Verlockung” ist teilweise autobiografisch und avancierte bei Erscheinen in den 50er Jahren zum Welterfolg. Dann jedoch geriet dieser Roman in Vergessenheit, bis Elke Heidenreich ihn wiederentdeckte und er es sogar auf die Bestseller-Liste schaffte.

Hauptfigur des Buchs ist Béla, der als uneheliches Kind in ärmlichen Verhältnissen im Ungarn der Zwischenkriegszeit aufwächst. Seine Mutter möchte sich allerdings nicht vom Sohn anketten lassen und gibt ihn kurzerhand bei einer örtlich pikant-bekannten Dorfdame ab, die eine Art “Pension” für uneheliche Kinder betreibt. Die Mutter selbst zieht nach Budapest, um das Leben zu genießen, was eher schlecht als recht funktioniert, fehlen ihr doch die finanziellen Mittel.
Die anderen Kinder, mit denen Béla nun zusammen wohnt, bekommen wenigstens ab und an Besuch von ihren Müttern, doch seine eigene läßt sich nicht blicken.

Erst sehr spät setzt Béla seinen Schulbesuch durch und läuft fortan jeden Tag kilometerweit zur Schule, wobei seine Füße nur mit Zeitungspapier umwickelt sind. Für Schuhe ist kein Geld da.
Schließlich besinnt sich die Mutter, dass sie einen Sohn hat und holt ihn nach Budapest – wobei auch der Gedanke daran eine Rolle gespielt haben dürfte, dass Béla nun ein kräftiger junger Mann ist, der Geld heranschaffen kann. Sie selbst arbeitet mittlerweile als Wäscherin und wohnt in einer armseligen Behausung, die sie nun mit Béla, der wild entschlossen ist, dieser Armut zu entfliehen, teilt.

Doch dann bekommt Béla die Chance seines Lebens: Er darf als Liftboy im größten Hotel Budapests anfangen. Für ihn eröffnet sich eine vollkommen neue Welt, auch wenn er von der Freizügigkeit der wohlhabenden weiblichen Hotelgäste zunächst irritiert ist und sich auf Spielchen einläßt, denen er nicht gewachsen ist.

“Verlockung” ist ein Roman, in den man sich einfach fallen lassen und in die 20er Jahre eintauchen kann. Dass diese nicht für alle glamourös waren, arbeitet Janos Szekely wunderbar heraus – so sieht man die schimmelige, düstere und ärmliche Wohnung, in der Béla und seine Mutter hausen, bildlich vor sich.
Die Diskrepanz zwischen den beiden Welten im Roman (die glitzernde, manchmal nicht ganz moralische Welt der Reichen im Hotel und das notdürftige Zuhause Bélas) ist sehr reizvoll, wobei an dieser Stelle darauf hingewiesen sei, dass es sich bei diesem Buch keinesfalls um ein anrührendes Sozialmärchen handelt. Dazu schreibt Székely viel zu realistisch.

Zehn Jahre lang hat der Autor an diesem Roman gearbeitet und eigentlich hatte er vor, eine Trilogie zu spinnen, deren weiter Teile in Europa und in den USA spielen sollten.
Analog zu Székelys eigenem Leben, zumal dieser nach dem ersten Weltkrieg von Ungarn nach Deutschland floh. Dort arbeitete er als Drehbuchautor für Stummfilme, bevor er 1938 in die USA emigrierte und dort für die Buchvorlage zum Film “Arise, my Love” mit einem Oscar ausgezeichnet wurde.
Diese Nähe zum Film merkt man auch seinem Schreibstil an. Székely hat ein untrügliches Gespür für gute Perspektiven, Schnitte zum richtigen Zeitpunkt und er versteht es, die Spannung so aufzubauen, dass man immer weiterlesen möchte.

Obwohl ich es bedauere, dass es keine Folgeromane gibt, bin ich jetzt erstmal froh, dass “Verlockung” wieder lieferbar ist und ich meine Lesefreude teilen kann.
Auf unserem Empfehlungstisch im Laden liegt schon ein Stapel parat.

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ISBN: 978-3-257-24363-5
Verlag: Diogenes
Erscheinungsjahr: 2016 (Erstveröffentlichung in den 50er/60er Jahren)
Preis: 14,00 €


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11 thoughts on “János Székely: “Verlockung”
Silvia

Du findest immer so interessante Bücher!

Friederike

Oskar sei Dank :)!

Silvia

Auch das lag gestern in einer großen Buchhandlung in Bonn aus. Ist ja ein dieser Wälzer! Da muss ich mal nach der eBook-Ausgabe schauen. Es war eine Thalia in Bonn. Sie hatten interessante Bücher auf den Tischen.

Pingback: János Székely – Verlockung | Muromez
Helga Conrad

Ich las dieses Buch zum ersten Mal um 1960. Ich war 12 Jahre alt und habe damals längst nicht alles verstanden. Aber dieser Bela und sein Leben interessierten mich und so las ich das Buch im Laufe meines Leben wieder und wieder. Oft lagen viele Jahre dazwischen. Noch heute kann ich es die Hand nehmen und egal, wo ich aufschlage, bin ich mitten in Belas Leben. Als ich Ende der 1970´er Jahre das erste Mal in Budapest war, erkannte ich vieles wieder.
Heute noch besitze ich die alte Ausgabe des Buches und eine neuere.
Es gibt nicht viele Bücher, die so faszinierend sind.

    Friederike

    Das freut mich jetzt aber sehr! „Verlockung“ ist wirklich ein ganz besonderes Buch.

Manuela

Absolut lesenswert! Eines der Bücher, wo einem noch Monate später „Flashbacks“ durch den Kopf gehen.

    Friederike

    Dem kann ich nur zustimmen :)!

Eva Essig

zunächst großen Dank für deine ausführlichen und überaus anregenden Rezensionen.
Wer dieses Buch gern gelesen hat, sollte den ebenfalls im ländlichen Milieu Ungarns
spielenden Roman „Die Mittellosen“ von Szilard Borbely lesen..Die Geschichte spielt Ende der sechziger Jahre im Nordosten Ungarns in desolaten dörflichen Verhältnissen in einem Milieu von Ausgegrenzten. Das geschichtliche Verhängnis „Krieg ,Kollaboration, Kommunismus“ schwingt ständig mit,alles aus der Sicht eines kleinen Jungen.
Der Autor kennt diese Welt vermutlich aus der eigenen Erfahrung. Er war Hochschullehrer in Ungarn und hat sich 2014 das Leben genommen.
Mit der ungarischen Literatur sollte man sich unbedingt befassen, sie ist wirklich genial, überaus reich und vielfältig.
Man denke nur an Györgi Konrad, Attila Bartis, Györgi Dalos undGyörgi Dragoman.

    Friederike

    Vielen Dank für den Tipp! „Die Mittellosen“ habe ich in der Tat bisher nicht beachtet.
    Ist notiert!

    Viele Grüße,
    Friederike

amselgesang

Ich habe diese Buch jetzt erstmals gelesen und war ebenso gefesselt wie wohl die meisten Leser/innen. Die harte und verstörende Beschreibung der bäuerlichen und proletarischen Lebensverhältnisse hat mich schockiert, vor allem als ich mir klargemacht habe, dass so etwas zwar in Ungarn Vergangenheit, aber in vielen Teilen der Welt brutale Gegenwart ist.
Ich war aber beim Lesen dieser Rezension erstaunt über mehrere Ungenauigkeiten. Ich bezweifle, dass Bélas Mutter nach Budapest geht, um „das Leben zu genießen“ – sie muss arbeiten, und mit einem unehelichen Kind im Säuglingsalter wäre das damals kaum möglich gewesen. Es stimmt auch nicht, dass sie sich nie blicken lässt, sie besucht ihn viele Jahre lang immer wieder, erst nach einem Zwischenfall mit der bösen Pflegemutter bleibt sie aus Angst weg. Dass Béla in Budapest als Liftboy arbeitet, ist auch nicht „die Chance seines Lebens“ – das wäre die Schule gewesen, die er so gerne weiter besucht hätte. Aber als Sohn einer bettelarmen Mutter bleibt ihm nichts anderes übrig, als arbeiten zu gehen. Und die dekadent-arrogente Kaltschnäuzigkeit der Reichen und Mächtigen augenzwinkernd als „manchmal nicht ganz moralisch“ zu bezeichnen, ist schon sehr euphemistisch.
Ich finde das Buch insgesamt viel, viel erschütternder, als diese Rezension vermuten lässt.
Auch ich werde es sicher noch öfter in die Hand nehmen (und jetzt meinem Mann, der ein Ungar aus Siebenbürgen ist, in die Hand drücken…)!
Trotz meiner kritischen Worte: Danke für die Rezension, ich werde hier noch weiterstöbern.

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