Colson Whitehead: “Underground Railroad”

Colson Whitehead: “Underground Railroad”

Wenn mir eine Lektüre Vergnügen bereitet, so ist das wunderbar – das Abschweifen vom Alltagsgeschehen ist ein Grund dafür, dass ich lese.
Wenn Bücher jedoch mein Bewußtsein für eine bestimmte Thematik schärfen und meinen Horizont erweitern, dann ist das eine andere Ebene. Romane, denen dies gelingt, bleiben mir lange im Gedächtnis – wie “Underground Railroad”.

Coras Großmutters wird auf ihrem Weg nach Amerika oft verkauft. Der Preis, der für sie gezahlt wird, schwankt jedoch stark. Je nachdem, wie hoch der Bedarf an jungen Mädchen ist, aber, sind wir einmal ehrlich, so gibt es immer Bedarf. Denn ein junges Mädchen, das Kinder (und damit Arbeitskräfte) produzieren kann, ist schon fast eine Lizenz zum Gelddrucken.
Auf den Plantagen im Süden Amerikas werden immer Arbeiter gebraucht – schwarze Arbeiter, die versklavt werden und keinen Lohn bekommen versteht sich.

Coras Großmutter zum Beispiel bekommt fünf Kinder, von welchen nur eines überlebt: Mabel, Coras Mutter – die einzige Sklavin, die jemals von der Randall-Plantage fliehen konnte und bis heute nicht eingefangen worden ist.
Auch Ridgeway, ein sehr erfolgreicher Sklavenfänger, konnte sie nicht ausfindig machen, was ihn wahnsinnig wurmt.
Als er vom Besitzer der Plantage angeheuert wird, um erneute eine entflohene Sklavin einzufangen, wird er hellhörig, denn es handelt sich um Cora selbst. Diese Schmach wird er sich nicht geben. Cora wieder einzufangen, ist mehr als ein Auftrag. Es geht um nichts anderes, als um Ridgeways Ehre.

Schon vor Coras Flucht erfahren wir so einiges über die Sklaverei am Beispiel der Randall-Plantage.
Unter anderem, dass der Besitzer des jeweiligen Sklaven darüber bestimmt, mit welchem anderen Sklaven dieser Kinder bekommen soll.
Oder dass Terence Randall manchmal das betreffende Sklavenpaar in der Hochzeitsnacht aufsucht, um dem Mann zu zeigen, wie die ehelichen Pflichten zu erfüllen sind.
Kleinste Anlässe sind es, die Terence wütend machen und Auspeitschungen zur Folge haben. Der blutige Rücken des bestraften Sklaven wird danach gerne mit Pfefferwasser eingerieben.

Nun sollte man meinen, dass die Solidarität der Sklaven auf der Plantage untereinander groß ist, doch dem ist nicht so. Es gibt eine klare Hierarchie. Neid und Missgunst sind an der Tagesordnung.
Cora hat von ihrer Mutter eine Art Parzelle geerbt, auf der sie Gemüse anbaut und die sie gegen jeden auch noch so großen Gegner verteidigt. Gegen so manche Intrige kann sie sich allerdings nicht schützen.
Denn da der weiße Besitzer nicht immer zugegen sein kann, hat er “Mitarbeiter” angeheuert. Sklaven, die dafür verantwortlich dafür sind, dass die Regeln des weißen Mannes eingehalten werden.

In diesem Fall handelt es sich um Moses, der die Macht in der Unterkunft hat und einen Handel mit Ava schließt, die auf Coras Parzelle eifersüchtig ist. Sie hat mit ihrem Körper dafür bezahlt, dass Moses Cora der normalen Behausung verweist und sie in den Hob schickt, dem Ort, an den man die Elenden verbannt.

Als Cora von Caesar zum ersten Mal gefragt wird, ob sie mit ihm gemeinsam fliehen möchte sagt sie nein. “Jeden Tag versuchte der weiße Mann einen langsam umzubringen, und manchmal versuchte er auch, einen schnell umzubringen. Warum sollte man es ihm leichter machen? Wenigstens hier konnte man nein sagen.”
Denn flieht man, unterschreibt man sein Todesurteil. Der Plantagenbesitzer würde alles dafür tun, seine Leibeigenen wieder einzufangen und außerdem gibt es auch ehemalige Sklaven, die sich ihr Geld damit verdienen, Entlaufene einzufangen.
Randall, einer der Plantagenbesitzer beugt einer Flucht vor, indem er sein Eigentum (also seine Sklaven) von einer Hexe verzaubern lässt. Niemand mit afrikanischem Blut, so sagt er, könne von der Plantage mehr fliehen, ohne von einer furchtbaren Lähmung befallen zu werden.

Diese Art von “Fluchtprävention” ist etwas, das heute noch betrieben wird. In der modernen Sklaverei, in welcher tausende junger Frauen von Nigera über die Flüchtlingsroute nach Europa geschleust werden, um dort als Prostituierte zu arbeiten.
Der “Stern” rekonstruierte das Schicksal einer jungen Frau, deren Vater mit 13 starb. Sie lernte nie lesen oder schreiben, da die Schulgebühren zu hoch waren und half ihrer Mutter auf dem Markt.
Des Weiteren arbeitete sie als Friseurin und kam so in Kontakt zu verschiedenen Menschen, die jemanden kannten, der in Europa lebte. Der Geld hatte und einen Fernseher.

Eigentlich wollte die junge Frau gar nicht nach Europa, doch sie wurde von einer Vertrauensperson der Familie rekrutiert, indem ihr gesagt wurde, dass es gar nicht schwer sei, dorthin zu gelangen.
Schließlich unterschrieb sie einen “Ausreisevertrag”, in dem stand, dass sie, sobald sie in Europa ankäme, 35.000 Euro Schulden abarbeiten müsse. Das habe man schnell in einem Jahr zusammen.

In Nigeria ist es so, dass wichtige Verträge bei einem Voodoo-Priester besiegelt werden, so schreibt der Journalist Uli Rauss in seinem Bericht weiter.
Hier kommt die Hexerei ins Spiel, die auch der Plantagen-Besitzer in “Underground Railroad” anwendet. Den Mädchen wird in beiden Fällen auf diese Weise Angst gemacht, damit sie gefügig bleiben.
Im Bericht des Sterns steht, dass der Voodoo Priester mit dem Blut von geschlachteten Ziegen und dergleichen mehr arbeitet und am Schluss ein Eid geleistet werden muss. Ein Eid, mit dem das Mädchen schwört, allen Anweisungen Folge zu leisten, die 35.000 abzubezahlen und nichts der Polizei zu erzählen.
Verstoße sie gegen diese Regeln, würde ihre Familie dafür bezahlen – gegebenenfalls mit dem Tod.
Wir sehen: Gestern, wie heute – die Methoden sind dieselben.

» zum Artikel im „Stern“ 

Zurück zu Colson Whiteheads Roman: Sollte das Angsteinflößen nicht fruchten und der Sklave trotzdem fliehen, so gibt es auch professionelle Sklavenfänger, die diesen zurückholen.
Manchmal ist es dem Sklavenbesitzer jedoch wichtiger, ein Exempel zu statuieren, denn seinen Besitz zurückzubekommen. In diesem Fall reicht es auch, wenn der Sklavenfänger nur den Kopf des Entflohenen zurückbringt.
Wir merken: Die Flucht von der Plantage ist nahezu unmöglich.

Doch es gibt etwas, das unter Umständen helfen könnte: Die Underground Railroad.
Dieses Netzwerk gab es wirklich. Es bestand aus Gegnern der Sklaverei, die insgesamt ca. 100.000 Sklaven die Flucht in den Norden bzw. nach Kanada ermöglichten.
Colson Whitehead geht in seinem Roman einen Schritt weiter. Anstatt “nur” über dieses Fluchtnetzwerk, dem auch Weiße angehörten, zu schreiben, nimmt er den Begriff wörtlich und erschafft eine U-Bahn, mittels derer die Sklaven fliehen können.
Das ist ein cleverer Schachzug, der dieses Buch auf eine andere Ebene hebt. Whitehead fügt historischen Ereignissen neue Elemente hinzu und ist dafür mit einem Science-Fiction-Preis, dem Arthur C. Clarke Award, ausgezeichnet worden.

Doch “Underground Railroad” ist nicht einfach ein Roman über die Sklaverei, mit der ich mich, wie ich zugeben muss, bisher noch nicht so viel beschäftigt habe. Es ist ein Buch das weit in unsere heutige Zeit hineinragt, denn es macht uns bewusst, wo die Wurzeln der Probleme liegen, mit denen die USA unter anderem heute zu kämpfen haben.

“Wenn man über den Rassismus der Vergangenheit schreibt, schreibt man auch über den Rassismus der Gegenwart”, sagt Colson Whitehead in einem Interview.
Worte, die einmal mehr zeigen, wie wichtig es ist, sich die Vergangenheit zu Geschichte zu vergegenwärtigen. Literatur kann uns dabei helfen. Dabei andere Perspektiven einzunehmen und über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen.
Literatur wie “Underground Railroad.”

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ISBN:  978-3-596-70253-4
Verlag: Fischer
Erscheinungsjahr: 2019
Übersetzung: Nikolaus Stingl
Preis: 12,00 €

Die gebundene Ausgabe ist 2017 bei Hanser erschienen.


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