Hanya Yanagihara: “Das Volk der Bäume”

Hanya Yanagihara: “Das Volk der Bäume”

Hanya Yanagihara nimmt uns in ihrem grandios komponierten Debütroman mit in den Dschungel und lässt uns die Zeit um uns herum vergessen.
Doch immer schwingt die Frage mit, ob der Forscher Norton Perina die Taten, für welche er angeklagt wird, wirklich begangen hat….
Großartig!

Dass Norton Perina überhaupt auf die unerforschte Insel Ivu´ivu gekommen ist, auf der er eine Entdeckung macht, die ihm den Nobelpreis einbringt, ist mehr dem Zufall geschuldet, denn Frucht harter Arbeit.
Während des Medizinstudiums, das er nicht gerade sehr strebsam absolviert, ist ihm immer klar, dass sich alles zu seinen Gunsten wenden würde.
Seinen fehlenden Ehrgeiz bezeichnet er als “authentisch”. Er ist sehr von sich überzeugt.

Seine Professoren sehen das jedoch anders und prognostizieren ihm, trotz relativ guter Noten, eine höchstens mittelmäßige Karriere. Was auch daran liegen mag, dass Perina nicht sonderlich oft zu den Vorlesungen erscheint.

Dass ausgerechnet er im dritten Studienjahr die Einladung bekommt, in Gregory Smythes Labor mitzuarbeiten, versteht eigentlich niemand so recht, zumal sich viele Studenten nach diesem Job die Finger lecken. Studenten, die sich wesentlich mehr bemühen.
So kommt es, dass Perina sich unter anderem um die Mäuse im Labor kümmert.  Bzw. darum, diese nach drei Monaten zu töten, um sie zu obduzieren.
Besonders der Prozess des Tötens bereitet ihm hierbei große Freude.

Smythe selbst lernt er erst anderthalb Jahre später kennen und erfährt, weshalb der bekannte Forscher ausgerechnet ihn für die Arbeit in seinem Labor ausgewählt hat.
Bei diesem Treffen entsteht eine Situation, die wohl der Grund dafür ist, dass Smythe ausgerechnet Perina für eine Forschungsprojekt vorschlägt, bei welchem es darum geht, einen Stamm ausfindig zu machen, der ohne jeglichen Kontakt zur Außenwelt auf der Insel Ivu´ivu leben soll.
Ivu´ivu, eine Insel zwischen Hawaii und Tahiti. Weiter weg ging es nicht, doch genau dies scheint Smythe recht zu sein.

Zu Smythes Leidwesen entdeckt das Forscherteam (wobei man hier eigentlich nicht von einem “Team” sprechen kann) den gesuchten Stamm wirklich. Doch damit nicht genug: Perina findet heraus, dass Mitglieder des Volkes der Ivu´ivu mehrere hundert Jahre alt werden, was auf den Verzehr einer auf der Insel beheimateten Schildkröte zurückzuführen ist.
Für diese Entdeckung der “Unsterblichkeit” erhält Perina den Nobelpreis und wird weltberühmt.
Weshalb er nun im Gefängnis sitzt und seine Memoiren schreibt, das ist eine ganz andere Geschichte…

“Das Volk der Bäume” schrieb die amerikanische Autorin Hanya Yanagihara vor ihrem Roman
„Ein wenig Leben“*, der bei Erscheinen 2017 in aller Munde war und in den USA im Jahr 2015 großen Wirbel verursachte.
In diesem Buch geht es, ganz knapp formuliert, um Jude, der Schlimmes hinter sich hat, sich selbst verletzt und sich weigert über seine Vergangenheit zu sprechen.
Seine Freunde versuchen ihm zu helfen und Mut zuzusprechen. Doch dies erweist sich als schwierig.

“Ein wenig Leben” polarisierte sehr. Die Besprechungen reichten von hymnischer Begeisterung bis zu vernichtender Kritik.
Elke Schmitter zum Beispiel sagte im Literarischen Quartett, dass es sich bei diesem 1000seitigen Werk um “reine Stilprozerei” handele.
Volker Weidermann hingegen hatte die Lektüre “vollkommen überwältigt”. Er fügte allerdings hinzu, dass er seinen kritischen Verstand bei der Lektüre ausgeschaltet habe.
Eine meiner Kolleginnen hat dieses Buch ebenfalls gelesen und meinte, dass es wirklich schlimm sei, was der Protagonist alles aushalten müsse, doch dass sie dieses Buch mit Faszination gelesen habe.

Mir war damals das ganze Drumherum zu viel – und das Buch ehrlich gesagt zu umfangreich.
Daher habe ich mich sehr gefreut, dass nun „Das Volk der Bäume“ (das Erstlingswerk der Autorin, das mich auch thematisch mehr anspricht) in deutscher Übersetzung erschienen ist – und das mich sehr begeistert hat.

Zunächst einmal ist da meine Faszination für das Beschreiben des Erforschens unentdeckter Kulturen.
Thematisch fühlte ich mich an „Pandora im Kongo“* von Albert Sánchez Piñol erinnert, denn auch hier stürzt sich ein junger, wesentlich sympathischerer junger Mann ins Abenteuer Urwald. Hierbei handelt es sich meines Erachtens nach jedoch um einen Abenteuerroman.

Dies ist bei Hanya Yanagihara anders, denn hier liegt der Schwerpunkt nicht auf der Expedition an sich,  sondern auf der Forschung.
Durch die zahlreichen Fußnoten, in denen zum Beispiel Bezug auf Werke weiterer Forscher genommen wird, hat der Leser den Eindruck, den Memoiren eines real existierenden Naturwissenschaftlers zu folgen.

Die Dramaturgie des Romans ist zudem sehr clever gewählt, denn Hanya Yanagihara stellt Nortons Memoiren diverse Pressemeldungen voran, aus denen wir erfahren, weshalb der Forscher im Gefängnis sitzt und somit viel Zeit hat, seine Erinnerungen aufzuschreiben.
Ihm wird “Vergewaltigung in drei Fällen, Unzucht mit Minderjährigen in drei Fällen, sexuelle Nötigung in zwei Fällen und Kindeswohlgefährdung in zwei Fällen vorgeworfen.”
Perinas Anwalt lässt verlauten, dass diese Vorwürfe vollkommen haltlos sind.

Dann folgt das Vorwort von Dr. Ronald Kubodera, einem guten Freund Perinas, der von dessen Unschuld überzeugt ist. Außerdem ist er sicher, dass die Jury, die über Nortons Inhaftierung entschied, alles andere, als unvoreingenommen war.
Er ist es auch, der Norton immer wieder gebeten hat, das Schreiben seiner Memoiren in Erwägung zu ziehen.
Aufgrund dieses Drängens können wir eben diese nun lesen.

Besonders faszinierend fand ich hierbei Nortons Beschreibung des Stammes der Ivu´ivu bzw. dessen Riten, von welchen einige sehr (ich formuliere es einmal vorsichtig) befremdlich anmuten.
Nortons nüchterner Stil bricht dieses Befremdliche doch stark herunter.

Das Tolle ist, dass man als Leser vollkommen in diese abgeschiedene Welt eintaucht und alles um sich herum vergisst.
Ich war sozusagen selbst mit Norton, Tallent und Esme im Urwald und konnte nachvollziehen, weshalb es zum Beispiel sinnfrei gewesen ist, einen Füller, anstatt eines Bleistifts, oder eines Kugelschreibers mitzunehmen.
Die Hitze bzw. die Feuchtigkeit ist so unerträglich, dass Tallent (der Leiter des Teams) empfiehlt, die mitgebrachte Kekse direkt am Tag der Ankunft zu verzehren, zumal sie danach matschig werden.
Norton hätte sie gerne länger aufgehoben, denn das Nahrungsangebot wird in den nächsten Monaten wohl eher ungewöhnlich sein.

Spannend fand ich auch, dass ich mich an manchen Stellen an Werke andere Autoren bzw. an historische Persönlichkeiten erinnert fühlte.
Der Expeditionsleiter Tallent verschwindet zum Beispiel spurlos, was mich an den Afrikaforscher/Missionar Daniel Livingston (1813 – 1873) denken ließ, der zwei Jahre lang als verschollen galt und der mir bei meinen Recherchen zu Éric Vuillards Roman „Kongo“* begegnet ist.
Über solche möglichen Parallelen freue ich mich immer sehr.

Hanya Yanagiharas Hauptperson ist übrigens nicht aus der Luft gegriffen. Vorbild für die Figur Norton Perina ist der Mediziner Daniel Carleton Gajdusek, der 1976 den Nobelpreis erhalten hat und auf den ich hier nicht näher eingehe, zumal ich nicht zu viel verraten möchte. Ich empfehle auch dringendst ihn nicht zu googeln, denn das würde, meiner Meinung nach, die Spannung aus dem Roman nehmen.

Da ich Hanya Yanagiharas Erfolgsroman “Ein wenig Leben” nicht gelesen habe, habe ich keinen Vergleich, glaube jedoch, dass dieser wesentlich emotionaler, bzw. schockierender ist.
Wer bei “Das Volk der Bäume” große Gefühle, Dramatik und intensive Momente erwartet, wird vielleicht enttäuscht sein, zumal es sich hier um den Bericht eines Menschen handelt, dessen Stärke eher in der Sachlichkeit, denn in der Emotionalität liegt.
Davon war ich überzeugt – und dann las ich das letzte Kapitel….

Mein Rat an alle potenziellen Leser: Klebt, heftet, oder was auch immer, euch die letzten Seiten (ab S.453) zu.
Lest sie keinesfalls aus Neugierde zuerst – denn sie werfen ein vollkommen anderes Licht auf diese Geschichte.
Das ist ganz großes Kino.
Super!

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ISBN: 978-3-492-31045-1
Verlag: Piper
Erscheinungsjahr: 2020
Übersetzung: Stephan Kleiner
Seiten: 480
Preis: 14,00 €

Die gebunden Ausgabe dieses Titels ist 2017 bei Hanser erschienen.


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2 thoughts on “Hanya Yanagihara: “Das Volk der Bäume”
chouette22

Sehr interessant! Dieses Buch steht schon eine ganze Weile auf meiner Liste. Ich habe „Ein wenig Leben“ vor einem Jahr gehört (Hörbuch) auf Englisch (ich lebe in den USA) und fand die ersten 550 Seiten absolut fantastisch, doch die letzten 200 waren ‚over the top.‘ Trotzdem wuerde ich dieses Buch empfehlen, denn Yanagiharas Stil ist fantastisch.

    Friederike

    Da kann ich Dir nur zustimmen.
    „Ein wenig Leben“ liegt auf meinem (zugegebenermaßen sehr hohen) Lesestapel…

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