Jon McGregor: “Speicher 13”

Jon McGregor: “Speicher 13”

Als ich diesen Roman in der Verlagsvorschau entdeckte, dachte ich mir schon, dass er gut sein wird. Darauf, dass er so gut ist, dass ich ihn nicht mehr aus der Hand legen konnte, war ich jedoch nicht vorbereitet.

Die dreizehn Jahre alte Rebecca Shaw verbringt die Weihnachtsferien in einem kleinen Dorf in England. Von einer Wanderung im Moor kommen ihre Eltern allerdings alleine zurück und auch eine großangelegte Suchaktion bringt keine Ergebnisse.
Rebecca ist wie vom Erdboden verschluckt.

Dieser Plot klingt stark nach Krimi, so wollte man meinen. Doch falsch gedacht.
In Jon McGregors Booker-Prize nominierten Roman geht es nicht darum, das Verschwinden des Mädchens aufzuklären, sondern darum, wie im Dorf die Jahre vergehen. Wie die Menschen sich an die Pressekonferenzen in den ersten Jahren gewöhnen, dann daran, dass diese weniger werden, bis schließlich gar keine mehr stattfinden und die Mutter des Mädchens noch immer in einer Pension im Dorf lebt.
Der Alltag hält Einzug.

Su Cooper zum Beispiel ist schwanger und erwartet Zwillinge. Da klar ist, dass ihr Mann Austin ihr mit den Kindern nicht so helfen wird, wie sie es sich wünschen würde, ist ihr viel daran gelegen, die Wohnung bis zur Geburt kindgerecht eingerichtet zu haben.
Im Dorf kennt sie noch niemanden, der ihr helfen könnte, zumal sie ihren Mann erst kürzlich bei einem Interview über das verschwundene Mädchen kennengelernt hat.
Wie sie mit ihren Kindern klarkommt und was aus ihrem Job bei der BBC wird, das erfahren wir im Laufe des Romans – auf eine besondere Art und Weise.

Jon McGregor lässt uns an den verschiedenen Geschichten teilhaben, indem er sie parallel zum Kreislaufs der Natur erzählt: Die Zeit vergeht, die Lämmer werden geschoren, die Füchse werfen ihre Jungen, Irene bastelt den traditionellen Brunnenschmuck, Su arbeitet in Teilzeit, an Halloween verkleidet sich ein Mädchen aus dem Dorf als das verschwundene Mädchen und bekommt dafür ziemlichen Ärger, Lynsey möchte Englisch studieren, was ihrem Vater überhaupt nicht passt und als Weihnachtstheaterstück wird “Aladdin” aufgeführt.

Alles greift rhythmisch ineinander, kein Ereignis ist wichtiger als das andere. Das Verpuppen der Schmetterlingslarven ist genauso bedeutend, wie der Fund eines Kleidungsstücks im Moor, der vielleicht dem verschwundenen Mädchen gehört.
Daher ist man während des Lesen immer auf der Lauer und fragt sich, ob im nächsten Satz vielleicht der entscheidende Hinweis steckt, oder ob sich jemand an etwas erinnert. Dass man bei dieser Fülle an scheinbaren Nebensächlichkeiten keine einzige Zeile dieses Werkes missen möchte, das ist große Kunst.

So erfahren wir zum Beispiel nach und nach, wie sich der geistig zurückgebliebene Andrew entwickelt, wie er immer kräftiger wird und wie seine Mutter langsam Angst vor ihm bekommt. Wie sich Dramen abspielen, lebensentscheidende Gespräche stattfinden und wer mit wem zusammenfindet, oder auch nicht.
Ganz unaufgeregt und dennoch hochfesselnd.

Dieses Buch habe ich direkt nach einer Zahn-OP angefangen und bin fest davon überzeugt, dass die Zeit danach so schnell verging, weil ich mich in “Speicher 13” festgelesen hatte.
Ich bin vollkommen in der Lektüre aufgegangen und nach wie vor von Jon McGregors Sprachrhythmus begeistert. So einen Sog zu kreieren, das schafft nicht jeder.
Kein Wunder also, dass dieses Buch auf der Longlist des Man-Booker-Prize 2017 stand.

Hätte ich entscheiden dürfen, wer den Booker-Prize bekommt, hätte ich ihn Jon McGregor verliehen, denn “Speicher 13” ist definitiv eines meiner Highlights des Jahres 2018.

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ISBN: 978-3-95438-084-8
Verlag: Liebeskind
Erscheinungsjahr: 2018
Übersetzung: Anke Caroline Burger
Seiten: 352
Preis: 22,00 €


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6 thoughts on “Jon McGregor: “Speicher 13”
Constanze Matthes

Der Roman ist gerade meine Lektüre. Bin auf den ersten Seiten und sehr gespannt auf den weiteren Verlauf der Handlung. Viele Grüße

    Friederike

    Liebe Constanze,

    dann bin ich gespannt, was Du zu diesem Werk sagen wirst.
    Viel Spaß beim Lesen wünscht Dir
    Friederike

Tobias

Mich hat dieses Buch wahnsinnig gemacht. Auf den ersten fünfzig Seiten knallt der Autor dem Leser ein ganzes Dorf mit Charakteren vor den Kopf und kommt irgendwie nicht zu Potte. Andauernd fragt fragt man sich, wer ist das denn schon wieder? Immer muss man zurückblättern. Zwischendurch pickt dann mal eine Amsel unter einer Hecke herum und ein Hase legt die Ohren an. Fürchterlich.

    Bücherflocke

    Danke für diesen Kommentar. Ich habe sehr gelacht!
    Herzliche Grüße,
    die Bücherflocke

Katharina

Ich habe das Buch einmal angefangen. Es gibt keine Absätze, alles ist in Blocksatz. Ich habe nach 25 Seiten aufgegeben. Aber dann habe ich immer wieder daran gedacht und habe es noch mal angefangen, diesmal habe ich den Finger unter die Zeile gehalten, wo ich gerade las. Und BÄM – das Buch hat mich total gefesselt.
Ich stimme Friederike in ihrer Rezension total zu. Beschreiben kann man das Buch allerdings nicht. Man muss es gelesen haben. Ich habe es in 1,5 Tagen trotz widriger Umstände (drei kleine Kinder :-)) gelesen. Unfassbar gut!!!
Danke für die Empfehlung. Die Buchbloggerin hat mein Leseverhalten total verändert zum absolut Besseren hin!

    Friederike

    Das freut mich sehr! Vielen Dank!

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