Alex Marzano-Lesnevich: “Verbrechen und Wahrheit”

Alex Marzano-Lesnevich: “Verbrechen und Wahrheit”

Ein großes, tiefes Buch, das mich sowohl sprachlich, als auch inhaltlich überzeugt und sehr bewegt hat. „Verbrechen und Wahrheit“ ist eines meiner Highlights des Jahres.

Alex wird niemals den Tag vergessen, an welchem sie das Video sah.
Das Video mit Ricky Langley.

Alex studiert Jura und macht ein Praktikum in einer Kanzlei, die sich auf die Verteidigung von Menschen spezialisiert hat, die des Mordes angeklagt sind. Bei allen Klienten ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie zum Tode verurteilt werden.
Alex ist klar gegen die Todesstrafe.
Doch als sie auf einem Video das Interview mit Ricky Langley sieht, der den sechsjährigen Jeremy Guillory umgebracht hat, fühlt sie nur noch eines: Den Wunsch, dass dieser Mann hingerichtet wird.

Alex ist von sich selbst sehr geschockt. Niemals hätte sie gedacht, dass sie solch einen Gedanken, solch ein Gefühl haben würde.
Aus diesem Grund, gräbt sie sich durch die Akten und beschäftigt sich so intensiv mit einem Fall, wie noch nie zuvor.

Doch um zu verstehen, warum sie so fühlt, muss sie sich zunächst mit sich selbst und ihrer Familiengeschichte auseinandersetzen.
Das wird nicht leicht, denn ihre Eltern, Großeltern und Geschwister haben ihre eigene Taktik mit Problemen und der Vergangenheit umzugehen: Sie schweigen. So wie auch Alex bisher geschweigen hat.
Aber das wird sie jetzt ändern.
Sie wird dieses Buch schreiben.

Abwechseln erzählt uns die Autorin nun ihre eigene Geschichte und die Ricky Langleys.
Davon, wie Jeremy Guillorys Mutter Lorilei ein paar Häuser weiter geht, weil sie denkt, dass ihre Schwägerin den sechsjährigen Jungen vielleicht zum Einkaufen mitgenommen hat.
Lorilei selbst ist alleinerziehend und kann sich kein Auto leisten, weshalb ein solcher Ausflug für Jeremy etwas Besonderes ist.
Aber das Auto der Schwägerin steht vor dem Haus. Sie war nicht einkaufen – und Jeremy ist auch nicht bei ihr.
Angst macht sich breit und die Suche nach dem Jungen beginnt.

Die Nachbarn helfen, holen ihre Taschenlampen, um im Wald, der an die Straße grenzt, etwas sehen zu können.
Sie sehen aber nur das was man in einem Wald eben so sieht. Bäume, Moos, Waldboden. Aber keinen kleinen Jungen.

Um 18.44 wählt Lorilei schließlich den Notruf.
Um 18.57 geht ein zweiter Notruf bei der Polizei ein.
Der Anrufer ist Ricky Langley.

Er wohnt in der gleichen Straße wie Lorilei.
Er ist es, der Jeremy ein paar Stunden zuvor die Tür öffnet, als dieser seinen Freund besuchen will.
Er ist es, der Jeremy sagt, er könne im Haus auf ihn warten.
Einem Haus, das er sich mit Pearl und Terry und ihren beiden Kindern teilt.

Ricky lebt dort zur Untermiete und passt im Gegenzug dafür auf die beiden Kinder auf, während Pearl und Terry arbeiten.
Dass er wegen Kindesmissbrauchs im Gefängnis gesessen hat, hat er Pearl erzählt. Das schwört er. Pearl wir im Nachhinein sagen, davon nichts gewusst zu haben…
Wer ist dieser Mann? Was hat er erlebt, warum ist er so wie er ist? Warum hat er getan, was er getan hat? Weshalb hat ihn niemand gestoppt?
Das sind die Fragen, die sich Alex stellt.

Fragen, die sie sich auch gestellt hat, als sie als Kind ihren Großvater die Treppe hinaufgehen hörte. Die Treppe zu ihrem Schlafzimmer und dem ihrer Schwester.
Ihre Großmutter schlief am anderen Ende der Treppe auf dem Sofa. Auch sie hörte ihren Mann die Treppe hinaufgehen. Aber sie hielt ihn nicht auf.
Warum?

Alex Marzano-Lesnevich hat hier zwei wahre Geschichten miteinander verknüpft, die rein formal dem Genre “True Crime” zugeordnet werden können, doch weit mehr sind als das.
Denn hier geht es nicht darum, das voyeuristische Bedürfnis des Lesers zu befriedigen, oder einen Fall aufzuklären.
Der Autorin geht es darum, selbst zu verstehen – und uns an daran teilhaben zu lassen.

Daran, dass es bei der Betrachtung eines Angeklagten auch immer darauf ankommt, was der Betrachtende in dieser Person sieht. Dass die jeweilige Sichtweise immer etwas mit den eigenen Gefühlen, der eigenen Erfahrung zu tun hat.
Hier stellt sich natürlich die Frage: Kann man die eigene Vergangenheit ausblenden und neutral denken bzw. agieren? Geht das überhaupt?

Diese Frage wird so mancher Anwalt, der zum Beispiel den Prozess einer Geschworenen-Auswahl begleitet mit “wahrscheinlich nicht” beantworten.
Deshalb dauert eine solche Auswahl oft sehr, sehr lange. Jede Person, die für die Geschworenen-Jury infrage kommt, wird genau durchleuchtet.

Nehmen wir mal an, der Angeklagte hat etwas Schlimmes getan und zuvor ein schweres Trauma erlitten. Und nehmen wir einmal an, dass es um einen potenziellen Geschworenen geht, dessen enger Verwandter, den er sehr liebt, ebenfalls ein Trauma erlitten hat.
Die Anklage wird wahrscheinlich versuchen diesen Geschworenen abzulehnen. Die Verteidigung hingegen, hätte diese Person bestimmt sehr gerne in der Jury, weil es gut sein kann, dass diese Person den Angeklagten versteht.
Weil er in ihm seinen Verwandten sieht.

(Wer mehr zum Thema Geschworenen-Jury wissen möchte: Hier geht es zu meiner Besprechung des Romans “Anatomie eines Prozesses”, der sich mit dieser Thematik befasst.)

In “Verbrechen und Wahrheit” zeigt uns Alex Marzano-Lesnevich mit klarem, analytischem Sachverstand, wie im Fall “Ricky Langley” juristisch vorgegangen worden ist.
Bergeweise hat sie dafür Akten gewälzt, Verhandlungsprotokolle und Zeitungsartikel gelesen und auch Ricky Langley selbst getroffen.
Daraus hätte sie einen informativen Bericht schreiben können, doch sie hat daraus viel mehr gemacht.

Sie hat in schöner, ruhiger Sprache über das geschrieben, was zwischen den Zeilen der Protokolle steht.
Und darüber, was in ihrer eigenen Kindheit geschehen ist, aber nie thematisiert wurde.
Während sie schreibt, begreift Alex, dass Flucht und Schweigen nicht länger eine Option darstellen.

“Verbrechen und Wahrheit” besticht durch Spannung, präzise Recherche und wie ich finde vor allem durch seine wunderbare Prosa, die dieses Buch so besonders macht.

Großartig!

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ISBN: 978-3-7472-0190-9
Verlag: Ars vivendi
Erscheinungjahr: 2020
Übersetzung: Sigrun Arenz
Seiten: 390
Preis: 23,00 €


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