Jennifer Clement: “Gebete für die Vermissten”

Jennifer Clement: “Gebete für die Vermissten”

Knapp ein halbes Jahr habe ich dieses Buch nun auf meinem eReader mit mir herumgetragen und immer gedacht: “Das kannst Du ja später noch lesen”.

Wenn ich gewusst hätte, welche Perle ich da ständig bei mir trug, hätte ich “Gebete für die Vermissten” sicherlich so mancher Neuerscheinung vorgezogen.
Dieses Buch hat mich schwer begeistert und beeindruckt.

“In Mexiko ist es das Beste, ein hässliches Mädchen zu sein.” Das ist der Leitsatz unter dem Ladydi in einem mexikanischen Bergdorf in der Nähe von Acapulco aufwächst.
Noch besser aber wäre es, erst gar kein Mädchen zu sein. Daher ziehen die Mütter ihre Töchter so an, wie Jungs und schneiden ihnen eben solche Frisuren. Es gibt sogar einen Friseursalon auf dem Berg, der die Mädchen nicht hübscher, sondern hässlicher macht.

Sobald ihr Kind auf der Welt war, erzählte Ladydis Mutter den Leuten im Dorf, es sei ein Junge und allen war klar, dass es wieder ein Mädchen war. Aber man nickte, denn einem selbst ging es mit seinen neugeborenen Kindern nicht besser.
Theoretisch waren alle männlich. Praktisch leider nicht, denn auf dem Berg lebt derzeit nur ein einziger echter Junge.

Das “leider” rührt daher, dass hübsche Mädchen wirklich gefährdet sind, denn Entführungen sind an der Tagesordnung. Die Macht über die Gegend liegt in den Händen eines mächtigen Drogenkartells.
Angst begleitet die Frauen und Mädchen tagtäglich und nicht nur davor, dass es die Töchter nicht schnell genug in ein ausgehobenes Erdloch schaffen, um sich zu verstecken und mitanzuhören, wie ihre Mütter getötet werden.

Es gibt auch noch Flugzeuge mit den Pflanzengiften, die die Mohnfelder zerstören sollen, ihre Ladung aber des öfteren einfach über dem Dorf versprühen. Dass diese Ladung auch für den Menschen hochgiftig ist, versteht sich von selbst.
Aus diesen Gründen lernen Ladydi und ihre Freundinnen sehr schnell extrem weit entfernte Geräusche zu deuten. Es geht ums reine Überleben.

Bisher ist auch noch kein einziges entführtes Mädchen zurückgekehrt. Genauso, wie die Väter.
Die wurden zwar nicht entführt, kamen allerdings dennoch nicht wieder. Seitdem die Straße in zur amerikanischen Grenze ausgebaut worden ist, gingen viele Väter in die USA und einmal dort angelangt, schicken sie vielleicht noch einmal Geld an ihre Ehefrauen und Kinder, doch schon bald ließen sie nichts mehr von sich hören.
So war es auch im Fall von Ladydis Vater.
Daher ist die Armut ein weiteres großes Thema –  genauso wie der Alkoholismus der Mutter.

Von all diesem Elend erzählt uns Jennifer Clement und zwar in einem Tonfall, der klar macht, dass Ladydi ihr Schicksal so angenommen hat. Es ist eben nicht zu ändern. Man muss mit der Realität klar kommen, ob man will, oder nicht – und Ladydi kennt die Welt eben auch nicht anders.

Jennifer Clement lässt ihre Protagonistin nicht jammern, sondern relativ nüchtern von ihrem Alltag erzählen und das bewundere ich sehr.
Wie einfach wäre es doch gewesen in einen tragisch-mitleidigen Tonfall zu verfallen, der einen bei jeder Seite seufzen lässt.
Doch genau dagegen begehrt dieser Text auf und das macht ihn so gut.

Schlimme Ermordungsszenen werden vollkommen ausgespart. Was Ladydis Freundin während ihrer Entführung erleben muss, erfahren wir nicht. Wir sehen nur die Brandnarben an ihrem linken Arm, was eine vollkommen andere Bedeutung hat, als wir es zunächst annehmen würden.
Darin liegt die zweite große Stärke dieses Romans: Wir lernen etwas.
Über das Land, über das Leben mit der Angst und zum Beispiel, dass die Exkremente von Löwen und Tigern sich bestens zum Verpacken von Heroin eignen, da dann die Hunde am Flughafen die Drogen nicht mehr riechen können.

Für diesen Roman hat die in Mexiko-City aufgewachsenen Autorin übrigens über zehn Jahre lang recherchiert und hunderte vom Drogenkrieg betroffene Frauen und Mädchen interviewt.
Das merkt man diesem Buch auch an – da hat sich jemand wirklich mit einem Thema auseinandergesetzt und recherchiert, ohne die Absicht zu haben, sein Wissen effektheischend einzusetzen und breitzutreten.
Entstanden ist kein blutiger Krimi sondern ein intensives Stück Literatur, das mich begeistert hat und das ich jedem ans Herz lege, der sein emotionales Wissen erweitern möchte.

» zur Leseprobe*


ISBN: 978-3-518-46640-7
Verlag: Suhrkamp
Erscheinungsjahr: 2015
Übersetzung: Nicolai von Schweder-Schreiner
Seiten: 228
Preis: 8,99 €


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2 thoughts on “Jennifer Clement: “Gebete für die Vermissten”
Hauke Harder

Ein „Leseschatz“. Die unverblümte Wahrheit dieses Buches macht es so lesenswert. Kein Roman für „Heile-Welt-Leser“, aber um so wichtiger.
Liebe Grüße aus Kiel, Hauke

Friederike

Dem stimme ich voll und ganz zu.

Viele Grüße,
Friederike

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