Diese Besprechung habe ich im Rahmen einer bezahlten Kooperation mit dem Luchterhand Verlag verfasst – was meine Meinung zum Buch nicht beeinflusst hat.
Als Mathilde im April 1947 in Marokko auf einem Eselskarren sitzt, der sie zu ihrem neuen Zuhause fährt, weiß sie, wie sich ihr Mann Amine vor ein paar Monaten in Frankreich gefühlt haben muss: Hilflos.
So ist das wohl, wenn man in einem Land ankommt, das einem fremd ist.
Mathilde lernt Amine 1944 im Elsass kennen. Er gehört dem Spahi-Regiment an und ist in der Nähe von Mulhouse stationiert. Die beiden geben ein nicht ganz alltägliches Paar ab.
Die große Mathilde und der marokkanische Offizier, der einen einen Kopf kleiner ist als sie.
Als sie heiraten, spürt Mathilde, dass ihre Freundinnen sie um diese Beziehung, dieses Abenteuer, beneiden.
Ein Abenteuer, das noch größer wird, als Amine einen Hof in Marokko erbt. Die beiden beschließen dorthin zu ziehen, denn Amines Traum ist es, in diesem trockenen Gebiet etwas anzubauen und den Boden zu bewirtschaften. Wie es sein Vater damals geplant hatte.
Allerdings liegt dieser Hof außerhalb der Stadt Meknes. Wenn man kein Auto besitzt (und woher sollten Mathilde und Amine das Geld dafür haben) muss man mit dem Eselskarren fahren – und ist eine ganze Weile unterwegs. Es ist eine Strecke, auf der Mathilde langsam klar wird, dass das Leben in der Fremde nicht so einfach werden wird.
Denn inzwischen ist ihr klar geworden, dass sie und Amine auffallen und beäugt werden. Und nicht nur sie, sondern auch Amine merkt, dass die Blicke feindselig sind.
Amine hat ständig das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen, dass er mit einer Französin an der Seite wiedergekommen ist.
Gegenüber dem Hotelpagen zum Beispiel, der es Amine übel nimmt, dass er mit dem Feind schläft.
Dass er sich im “Ville Nouvelle” frei bewegen kann und nicht ständig das Papier dabei haben muss, das zeigt, dass er dazu berechtigt ist, sich dort aufzuhalten.
Denn die Stadt Meknes ist klar geteilt. In die “Medina “ und das “Ville Nouvelle”, das unter der Herrschaft der Franzosen entstanden ist…
Bis ich zu diesem Buch gegriffen habe, habe ich mich nicht mit der Geschichte Marokkos befasst. Deshalb habe ich mich nach den ersten dreißig Seiten erstmal ein bisschen eingelesen. Das ist allerdings nicht notwendig, um “Das Land der Anderen” zu verstehen.
Aber ich schätze es, wenn Bücher mich dazu bringen, etwas über eine bestimmte Thematik erfahren zu wollen.
Jetzt weiß ich zum Beispiel, dass Marokko im (Gegensatz zu Algerien) keine französische Kolonie, sondern ein Protektorat gewesen ist.
Worin der Unterschied besteht, war mir bisher nicht klar, zumal ich mich mit dieser Thematik bisher nicht beschäftigt hatte. (An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, dass kein Historiker und auch kein Experte bin und hier nur das wiedergebe, was ich verstanden zu haben meine. Wenn ich hier Blödsinn erzähle, so bitte ich darum, mich zu korrigieren.)
So grob gesagt, denke ich, dass der Unterschied zwischen den beiden Bezeichnungen der ist, dass eine Kolonialmacht (in diesem Fall Frankreich) eine Kolonie (z.B. Algerien) besaß und die Bewohner Algeriens (bis zur Unabhängigkeit im Jahr 1962) somit Untertanen Frankreichs waren.
Im Gegensatz zu Algerien blieb der Sultan in Marokko nach der Unterzeichnung des Protektoratsvertrags mit Frankreich zwar offiziell Staatsoberhaupt, aber repräsentierte nur noch.
Die islamischen Rituale und Gebote wurden zwar offiziell weiterhin durch das Gesetz geschützt, doch diente dies auch zur Beruhigung der Bevölkerung.
Französisch wurde zur Amtssprache und Siedler aus Frankreich konnten in Marokko sehr günstig Land erwerben.
Dass es zu Protesten kam und dass die marokkanische Bevölkerung die französischen Siedler jetzt nicht mit Begeisterung begrüßte, dürfte klar sein.
Ich habe mir die Frage gestellt, was die Beweggründe für jemanden, der sein Leben in Frankreich verbracht hat, sein könnten, alles hinter sich zu lassen und nach Marokko zu ziehen.
Wie zum Beispiel im Amines und Mathildes Nachbar, der es zum Wohlstand gebracht hat und sehr abfällig über die Einheimischen spricht.
Er ist es auch, der mir eine Antwort liefert: “In Frankreich war mir das Leben eines Päderasten beschieden, ein armseliges, unbedeutendes, beschränktes, ruhmloses Dasein. In diesem Land aber konnte ich ein echter Mann sein.”
An anderer Stelle trifft Mathilde auf ein Auswandererpaar und sie stellt fest, dass die Menschen in diese abgelegene Gegend gehen, “ […] um zu lügen, um sich selbst neu zu erfinden.”
Nunja, Mathilde ja irgendwie auch.
Klar, zum einen war es die Abenteuerlust, die Neugier.
Aber sie verspürt auch Genugtuung dabei, wenn sie Briefe an ihre Schwester schreibt, die Mathilde früher gerne spüren ließ, wer hie die Überlegene war.
In ihren Briefen schreibt sie vom wunderbaren, aufregenden Leben in Meknes – und rächt sich so im Kleinen an ihrer Schwester.
Denn was sie schreibt, entspricht nicht so ganz den Tatsachen: Das Leben mit zwei kleinen Kindern und die harte Arbeit auf dem Hof sind nicht so leicht und locker.
Außerdem ist Mathilde in der ersten Zeit traurig “über all die ersten Male, die niemanden außer ihr interessierten, diese Existenz ohne Zuschauer.” Sie kann ihre Tierliebe mit niemandem teilen, oder ihr Entsetzen über so manche Tradition.
Heute könnte Mathilde sich einen Instagram-Account zulegen, Bilder posten #ilovemarocco oder #familygoals oder so druntersetzen -und bekäme bestimmt ganz viele Likes.
Da wir uns aber im Jahr 1947 befinden, muss Mathilde so klarkommen.
Das tut sie meistens auch. Auch als sie feststellt, dass Amine sich in seinem Heimatland anders verhält, als in Frankreich…
Wer jetzt aber meint, wir haben es hier mit einem Roman zu tun, in welchem wie mit der Hauptfigur mitleiden und den Mann an ihrer Seite verfluchen können, dem muss ich an dieser Stelle sagen: Wenn Du einen Roman willst, der Dich emotional mitnimmt, bzw. einen Roman in welchem Du Dich am Schicksal der Personen laben, oder dich mit ihnen identifiziere und denken kannst: Ach, gut, dass es mir nicht so geht – dann wäre es vielleicht besser, Du liest etwas anderes.
Denn die ganz große Kunst Slimanis besteht nicht darin Mitleid zu erzeugen, sondern darin wertfrei über ihre Figuren zu schreiben. Sie verurteilt niemanden.
Es gibt keine Bösen und keine Guten. Jede Figur trägt etwa von allem in sich. Wie im echten Leben.
Trotz aller Neutralität, kann man etwas anderes zwischen den Zeilen spüren. Ein Gefühl, das (und das ist von der Übersetzerin Amelie Thoma großartig gemacht) auch in der deutschen Übertragung zu spüren ist. Ein Gefühl, das man vielleicht „Liebe“ nennen kann.
Denn Leila Slimani erzählt hier nicht irgendeine Geschichte. Es ist die Geschichte ihrer Großeltern, an die “Das Land der Anderen” angelehnt ist.
Es handelt sich hierbei um den ersten Teil einer geplanten Trilogie. Im zweiten Band wird es um Leila Slimanis Mutter gehen und ich nehme einmal an, dass sie uns im dritten Teil ihre eigene Geschichte erzählen wird.
Oder besser gesagt, eine Geschichte erzählen wird, in die sie ihre eigenen Erfahrungen mit einfließen lässt.
Denn (so betont sie in einem Interview) beim Schreiben von “Das Land der Anderen” haben die Erinnerungen an ihre Großmutter und ihren Großvater zwar eine große Rolle gespielt, doch es handele sich nach wie vor um einen Roman. Einen Roman, bei dem das allermeiste erfunden ist.
Mit Ausnahme der historischen Begebenheiten natürlich.
Dass ich mich mit diesen befasst habe, ist diesem Buch zu verdanken.
Ich finde es immer toll, wenn es einem Roman gelingt, mich dazu zu bringen über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen. Mich mit Themen zu beschäftigen, die ich so nicht auf dem Schirm hatte.
Das ist bei “Das Land der Anderen der Fall” – und deshalb sage ich: Vielen Dank, liebe Leila.
ISBN: 978-3-630-87646-7
Verlag: Luchterhand
Erscheinungsjahr: 2021
Übersetzung: Amelie Thoma
Seiten: 384
Preis: 22,00 €
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