Dieser Krimi ist anders.
Ruhig und trotzdem so spannungsgeladen und intensiv, dass ich ihn in einem Rutsch gelesen habe.
Wer sich auf die Walz begibt, muss sich an Regeln halten, die bereits seit Jahrhunderten gelten. Eine besagt zum Beispiel, dass man für seine Unterkunft nicht bezahlen darf, sondern diese “Rechnung” in Form von Arbeit zu begleichen hat.
Katrina ist 18, Tischlerin und auf der Walz. Im Winter.
Es ist extrem kalt und sie ist alleine auf der Straße unterwegs, denn laut einer weiteren Regel darf sie keine Verkehrsmittel benutzen, die Geld kosten.
Katrina trägt ein Tuch vor der unteren Gesichtshälfte und viele Menschen, die sie im Auto mitnehmen, denken, dass dieses Tuch etwas mit der Kälte zu tun hat. Doch dem ist nicht so.
Aber das muss sie ja nicht jedem auf die Nase binden. Neugierigen Blicken ist sie so oder so ausgesetzt.
Katrina hat genug davon, dass sie immer angestarrt wird – ob nun mit, oder ohne Tuch.
Eigentlich sollte sie das ja inzwischen gewöhnt sein, denn nach der Gefangennahme waren alle Blicke auf sie gerichtet. Nicht nur wegen des Tuchs, sondern wegen ihrer Vergangenheit, über die alle aus der Presse Bescheid zu wissen glaubten.
Schließlich hält eine Frau am Straßenrand an, nimmt Katrina mit in den nächsten Ort und hat auch gleich eine Idee, wo sie einen Job und eine Unterkunft finden könnte.
Im „Kartoffelhaus“.
Hätte sie diese Idee doch bloß nicht gehabt…
Antje Wagners Krimis wurden mir schon vor längerer Zeit empfohlen und, wie ich jetzt weiß, zu Recht.
Im Gegensatz zu manch anderem Titel dieses Genres ist “Hyde” von A bis Z durchdacht und wirkt weder gewollt noch aufgesetzt. Auch verzichtet Antje Wagner auf Action und vertraut auf ihre Stärken: Der intensiven Charakterisierung lebensnaher Menschen und Situationen.
Sie verzichtet auf effekthaschende Beschreibungen und belässt es zum Beispiel dabei, zu sagen, dass Katrina ein Tuch vor der unteren Gesichtshälfte trägt, ohne welches sie niemals aus dem Haus gehen würde.
Alles Weitere bleibt der Phantasie des Lesers überlassen. Das ist stark gemacht.
Warum dieses Tuch nötig geworden ist, erfahren wir nach und nach. Wohldosiert und zunächst auch nur andeutungsweise, was die ganze Geschichte unheimlich spannend macht.
Nur so viel sei verraten: Katrina ist nicht unter normalen Umständen aufgewachsen, sondern an einem Ort namens “Hyde”, der mitten im Wald liegt (bzw. lag, denn diesen Ort gibt es inzwischen nicht mehr) und den sie sehr vermisst.
Ihre Kindheit war sehr schön und sie entwickelte bereits in jungen Jahren eine tiefe Verbundenheit mit der Natur.
Darin liegt eine weitere Stärke dieses Buches, denn durch Katrina lernt der Leser so einiges über Naturheilmittel und zum Beispiel auch, dass man aus Kastanien Shampoo herstellen kann. Das ist sehr bereichernd.
In Rückblicken erfahren wir, was Katrina seit ihrer Gefangennahme erlebt hat, aber was dieses Ereignis genau bedeutet, das wird erst sehr spät aufgedeckt.
Hinzu kommt, dass Antje Wagner es nicht dabei belässt, einfach “nur” Spannung aufzubauen, sondern dem Geschehen eine Wendung hinzufügt, mit der ich nicht gerechnet hätte – und das passiert mir relativ selten.
“Hyde” ist definitiv besonders und wer gerne schnelle Krimis liest, in welchen Action auf Action folgt, der sollte vielleicht etwas anderes lesen.
Wer sich jedoch ein intensives Leseerlebnis wünscht, sich langsam aufbauende Spannung mag, der man sich nicht entziehen kann und wer wirklich überrascht werden möchte, dem lege ich “Hyde” ans Herz.
Ich jedenfalls bin Antje-Wagner-angefixt und ein weiteres ihrer Bücher (“Unland”) liegt bereits auf meinem Nachttisch.
Ich bin gespannt!
Ein All-Age-Krimi für alle Leser von 15 bis 99.
P.S.: Vielen Dank an Anna von Buchstabenträumerei. Ohne Dich hätte ich Antje Wagner nie entdeckt.
ISBN: 978-3-407-75535-3
Verlag: Beltz
Erscheinungsjahr: 2020
Seiten: 408
Preis: 9,95 €
Die gebundene Ausgabe dieses Titels ist 2018 bei Beltz erschienen.
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