Oh, wie zauberhaft! Die Lektüre dieses Klassikers hat mich sehr glücklich gemacht.
Das gab es noch nie. Ein wohlhabendes Stiftungsmitglied des Waisenhauses hat Interesse an der Zukunft eines Mädchens gezeigt. Bisher ist diese Ehre immer nur Jungen zuteilgeworden.
Der edle Spender möchte, dass die 17-jährige Jerusha auf die Universität geht und später Schriftstellerin wird. Er hat einen ihrer Aufsätze gelesen, den die Heimleiterin als unverschämt bezeichnet, doch besagtem Herrn scheint es nicht an Humor zu mangeln.
Er findet Jerushas Schriftstück außerordentlich originell.
Die einzige Gegenleistung, die er verlangt, ist, dass Jerusha ihm Briefe über ihre Fortschritte während der Ausbildung schreibt, wobei er betont, dass er weder zurückschreiben, noch sich jemals zu erkennen geben werde.
Ein Mittelsmann wird sich um die Formalitäten kümmern.
So geschieht es und vor uns liegen nun die Briefe Jerusha Abbots.
Allerdings findet sie die Anrede “Lieber freundlicher Treuhänder, der Waisen an die Universität schickt”, doch etwas umständlich.
Da sie nur drei Dinge über ihren Gönner weiß (er ist groß, reich und hasst Mädchen), aber es ihr etwas unhöflich erscheint, ihre Briefe mit “Lieber Mädchenhasser”, oder “Lieber reicher Mann” zu beginnen, entscheidet sie sich für den Aspekt der Größe – für “Lieber Daddy-Long-Legs”.
Jerusha, die sich fortan Judy nennen wird (ihr erster Spitzname überhaupt), hat erst drei oder vier Briefe in ihrem gesamten Leben verfasst. Wem sollte sie denn auch schreiben. Alle Menschen, die sie kennt leben im Waisenhaus.
Doch schon nach wenigen Sätzen wird dem Leser bewusst, dass hier ein Naturtalent am Werk ist. Judys Briefe sind schlichtweg wunderbar und sprühen vor Witz und Charme.
Wie sie uns zum Beispiel an ihrem neu erworbenen Wissen über Chemie im Allgemeinen und der Thematik der Säuren und Laugen im Besonderen teilhaben lässt und Daddy-Long-Legs erzählt, dass sie sich mit Salzsäure ein tellegroßes Loch in die Laborschürze gebrannt hat.
Eigentlich müsse sich dieses Loch doch mit “anständig starkem Ammoniak” neutralisieren lassen, oder etwa nicht…?!
Es sind zum einen die kleinen Ereignisse, die dieses Buch so bemerkenswert machen, zum anderen sind es die Erkenntnisse, die Judy gewinnt.
Als sie es zum Beispiel an einem Tag mit einigen unangenehmen Kleinigkeiten zu tun bekommt, schreibt sie:
“Haben Sie schon jemals von einer so entnervenden Reihe von Ereignissen gehört?
Es sind gar nicht die großen Probleme des Lebens, die den Charakter fordern. Einer echten Krise oder einer niederschmetternden Tragödie kann jeder Mensch mutig entgegentreten, doch die unbedeutenden Ärgernisse des Tages mit einem Lachen abzutun – ich glaube, das erfordert wirkliche innere Stärke.”
Da möchte man doch nicken und sagen: “Wahrhaftig!”.
Während der Lektüre hatte ich stets den Eindruck, dieses Werk zu kennen und in der Tat: Ich habe es schon einmal gelesen. Vor ungefähr 20 Jahren und ich erinnere mich, dass es mir damals schon großes Vergnügen bereitet hat.
Ich freue mich sehr, dass dieser Klassiker aus dem Jahre 1912 nun wiederentdeckt worden ist und lege ihn allen (Jugendlichen und Erwachsenen) ans Herz, die einmal wieder etwas zeitlos Schönes lesen möchten.
Für alle Leser ab 14 Jahren.
P.S.: Inzwischen habe ich Jean Websters Nachfolgeroman “Lieber Feind” – gelesen – und bin hin und weg!
ISBN: 978-3-551-56044-5
Verlag: Königskinder
Erscheinungsjahr: 2017
Übersetzung: Ingo Herzke
Illustration: Franz Renger
Seiten: 256
Preis: 18,99 €
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