Susanne Röckel: „Der Vogelgott“

Susanne Röckel: „Der Vogelgott“

Mystische Spannung, drei dicht verwobene Erzählstränge und eine poetische Sprache machen dieses literarische Werk zu etwas ganz Außergewöhnlichem.

Thedors Vater ist Ornithologe und erzieht seine beiden ältesten Kinder mit Strenge. Er schenkt ihnen nichts, weder menschliche Wärme, noch finanzielle Bezuschussung, sodass sein ältester Sohn Lorenz dazu gezwungen ist, während des Studiums nachts in einer Spedition zu schuften.
Seine Tochter Dora muss schließlich ihren Traum Künstlerin zu werden, wegen Geldmangels aufgeben.

Bei seinem jüngsten Sohn, Thedor, der (im Gegensatz zu den älteren Kindern) keinerlei Begabung zu haben scheint und dessen Lebensziel es ist, sich irgendwie durchzumogeln, lässt er Milde walten und jede Entschuldigung, bzw. Ausrede gelten.
Obwohl klar ist, dass Thedor es nicht so mit dem Lernen hat, drängt der Vater ihn dazu, Medizin zu studieren und gibt ihm auch das Geld dafür. Von so viel Unterstützung können Lorenz und Dora nur träumen.

Das Medizinstudium lässt Thedor, wie vermutet, schnell schleifen und an seinem dreißigsten Geburtstag ist es dann da. Das Gefühl, alles im Leben verpasst zu haben.
Nach einem Trinkgelage kehrt er schließlich an den Ort zurück, an welchem die Familie vor dem Tod der Mutter gelebt hat. Er besucht auch die örtliche Kirche, welche er jeden Sonntag mit der Familie aufsuchen musste und in welcher sich ein großes Gemälde des Malers Wolmuth befindet.

Sein weiterer Weg führt ihn zu einem Kramladen, den zu betreten in früheren Zeiten eine Mutprobe gewesen ist. Nun hängt im Schaufenster eine Abbildung des Wohlmuth-Gemäldes aus der Kirche. Der sich darunter befindende Schriftzug “DU bist gefragt!” veranlasst Thedor dazu den Laden zu betreten.
Der neue Ladenbesitzer, von dem ein modriger Geruch ausgeht, scheint Thedor bereits erwartet zu haben – und alles über ihn zu wissen.
Thedor (paralysiert und gleichzeitig voller Energie) unterschreibt einen Vertrag, laut welchem er ans andere Ende der Welt, nach Kiw-Aza, reisen soll, um ärztliche Hilfe zu leisten.
Er weiß nur, dass es “um einen Feldzug, ein Werk, eine weltumspannende Aktion” geht – eine mehr als vage Beschreibung…

Ein paar Monate später wacht Thedor in einer Klinik in Deutschland auf. Etwas Schlimmes ist ihm in Kiw-Aza zugestoßen, etwas, das er nicht in Worte fassen kann.
Etwas, das mit einer vogelähnlichen Gestalt zu tun hat, deren Anblick einem das Blut in den Adern gefrieren lässt. Eine Gestalt, die Menschen frisst…

Was Susanne Röckel hier vollbringt ist großes Kino.
Sie erzählt uns von Thedors Aufenthalt in einem sehr seltsamen und beängstigenden Dschungeldorf und davon wie er den versteckten Bericht eines Herrn entdeckt, der vor ihm in Kiw-Aza gewesen ist und dem Grausames widerfahren zu sein scheint.
Ein bisschen fühlte ich mich an “Pandora im Kongo”* von Albert Sánchez Piñol erinnert, einen Roman den ich vor Jahren verschlungen habe. Auch hier geht es um einen jungen Mann der sich auf eine Dschungel-Expedition (hier ist es der Kongo) begibt und dort auf mystische Wesen trifft.
Während jedoch Piñol Geschichte im Jahre 1914 spielt, siedelt Susanne Röckel ihr Geschehen in der Gegenwart an.
Wir haben es also nicht verträumten/romantisierten Afrika-Forscher-Mythen damaliger Zeiten zu tun, sondern mit den Wünschen, Träumen und Ängsten der Menschen im Hier und Jetzt.
Dem Wunsch nach Selbstverwirklichung zum Beispiel, oder der Angst, das Leben verpasst zu haben.

Susanne Röckel schlägt in diesem Roman eine Brücke zwischen der alten Welt und ihren Mythen und der Moderne.
Dieses Spiel zwischen vermeintlich Vergangenem und Aktuellem, zwischen realer Welt und Aberglaube, zwischen Wahn und Wirklichkeit macht dieses Buch so faszinierend – und so stark.
Hinzu kommt, dass Susanne Röckel das Talent besitzt, die Geschichten der drei Geschwister Thedor, Dora und Lorenz virtuos ineinander greifen zu lassen. Dies ist etwas, das ich sehr schätze und weshalb ich den Schriftsteller David Mitchell (der meines Erachtens nach die Kunst, Erzählstränge miteinander zu verweben, perfektioniert hat), so sehr liebe.

Dora hat beschlossen, ihre Dissertation über den Maler Wohlmuth zu schreiben. Im Zuge ihrer Forschungen entdeckt sie unter einem dilettantisch wirkenden Madonnen-Gemälde Wohlgemuths (das eigentlich gar nicht ins Œuvre des Malers passt), ein anderes, sehr düsteres, vom Madonnen-Motiv übermaltes Werk.
In der Ecke scheint sich eine große Taube zu befinden. Oder ein andere großer Vogel.
Ein unheimlicher Vogel. Vielleicht ist er es ja auch – der Vogelgott….

Wie Susanne Röckel alleine die Bilder Wolmuths beschreibt, ist großartig. Sie entstehen quasi vor dem Auge des Lesers und werden Schicht für Schicht dunkler, düsterer – und faszinierender.
Man möchte gerne selbst die untere Schichten freilegen und auf die Wahrheit bzw. das ursprüngliche Gemälde stoßen. Ein Bild, das nichts mit der Madonna zu tun hat, sondern eine Wahrheit darstellt, die übermalt werden musste.

Im letzten Teil des Romans kommt Lorenz zu Wort, der mit seiner Frau Marta und seinen beiden Söhnen Urlaub macht – und sich mit Marta streitet.
In der Pension begegnet er der Angestellten Clara, die ihn fasziniert. Er drückt sich unter fadenscheinigen Ausreden im Haus herum, um ihr zu begegnen. Ihr, einer Frau, die Martas Ansicht nach hässlich und schmuddelig ist – und die neben Lorenz den Teufel zu entdecken meint.

Bei seiner Abreise findet Lorenz auf dem Fensterbrett eine “große weißliche Feder”, die er einem vogelkundigen Einheimischen zeigt.
Dieser sagt “sie stamme aus der Armschwinge eines Raubvogels.[…] Aber solche Vögel seien schon seit Jahrzehnten nicht mehr in der Gegend heimisch.”….

Dass Susanne Röckel auch als Übersetzerin tätig ist und zum Beispiel Werke von Irène Némirovsky, Paula Fox und Joyce Carol Oates ins Deutsche übertragen hat, merkt man ihrem Roman an.
“Der Vogelgott” besticht durch feines Sprachgefühl und ist meiner Ansicht nach vollkommen zu Recht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2018 gelandet.

Wenn die Jury mutig ist, verleiht sie Röckels Werk in diesem Jahr den Deutschen Buchpreis. Es wäre mal etwas Neues.
Ich würde mich freuen, denn Susanne Röckels formale und sprachliche Virtuosität gehören meiner Ansicht nach ausgezeichnet. Am 8. Oktober werden wir es erfahren…

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ISBN: 978-3-442-71871-9
Verlag: btb
Erscheinungsjahr: 2020
Seiten: 272
Preis: 11,00 €

Die gebundene Ausgabe dieses Titels ist 2018 bei Jung und Jung erschienen.


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