Gerade komme ich vom Friseur und ich habe mich nicht zwei Stunden lang gelangweilt, oder in Magazinen geblättert – nein: ich habe “Boy” gelesen und den Salon um mich herum vollkommen ausblenden können, was mir bisher bei keiner anderen Lektüre gelungen ist.
Boy ist tot. Die lange Zeit des Wartens auf die Nachricht, ob er vielleicht einfach abgehauen ist, ist vorüber – doch seiner Mutter wäre die Ungewissheit eigentlich lieber gewesen. Mark, Boys Vater, gelingt es nach einiger Zeit sich mit anderen Dingen abzulenken, wie zum Beispiel der Neugestaltung der Terrasse, doch seine Frau kann dies einfach nicht.
Das mag daran liegen, dass sie einsehen muß, dass sie nie eine wirkliche Beziehung zu Boy aufbauen konnte. Von Anfang an war da eine Distanz zu spüren, gleich als sie ihn zum ersten Mal im Kinderheim gesehen hat.
Boy ist adoptiert, denn Mark und seine Frau können keine Kinder bekommen. Schon rein optisch ist klar, dass Boy nicht ihr leibliches Kind ist, denn er ist, im Gegensatz zu seinen Adoptiveltern, dunkelhäutig und kommt aus Afrika.
Boy war nicht das einzige Kind im Umfeld von Mark und seiner Frau, welches aus einem anderen Land kam und adoptiert worden ist. Jedoch war er der Einzige, der sich auch mit 14 Jahren noch so benahm, als ob er Gast in seinem Zuhause in den Niederlanden sei.
Zurückhaltend war er und hatte keinen Kontakt zu anderen Jugendlichen, obwohl seine Mutter ihn immer dazu gedrängt hat. Zum Beispiel hat sie ihn beim Softball angemeldet und in quasi zur Probestunde gezwungen. Sie fuhr ihm heimlich hinterher und wurde Zeuge, wie er am Spielfeldrand stand und offensichtlich war, dass er sich überhaupt nicht für das Geschehen interessierte. Kontakt oder Gespräche mit anderen kamen nicht zustande.
Wieder eine Enttäuschung. So hatte sie sich ihr Kind nicht vorgestellt. Niemals hätte sie damit gerechnet so einen Außenseiter zum Sohn zu haben, zu dessen Geburtstag trotz Einladung niemand erscheint.
Allerdings muß man auch sagen, dass sie selbst auch nicht wirklich Anschluß findet. Immer wenn sie sich vor der Schule bemüht mit anderen Müttern Small Talk zu machen, verstummen die Gespräche und die Situation wird unangenehm. Längst hat es Mark übernommen bei Schulfesten und dergleichen mehr zu helfen und wird dafür von den anderen Müttern bewundert.
Irgendwas läuft da gewaltig schief. Jetzt ist Boy tot und seine Mutter beginnt Nachforschungen anzustellen.
Wytske Versteeg ist hier ein psychologisches Meisterstück gelungen. Tief dringt sie in ihre Figuren ein und läßt uns spüren, was diese bewegt oder besser gesagt enttäuscht.
Die Mutter ist Psychologin und müßte sich eigentlich gut in Boy einfühlen können, doch das Gegenteil ist der Fall – sie ist wütend und zweifelt auch ihre Berufswahl an. Sie selbst formuliert das so:
“Ich war gut in meinem Job, aber nicht die verständnisvolle Freundin, die meine Patienten so gerne in mir sehen wollen. Oft fühlte ich mich von ihren Problemen regelrecht abgestoßen.
Als wäre das eine Charakterschwäche, sich von seinen Gefühlen übermannen zu lassen, sich seinem Leid dermaßen hinzugeben. Ich verstand nicht, wie man sich bloß so gehenlassen kann.
Aber ich hatte gelernt, mir nichts anmerken zu lassen.”
Sie und Boy sind sich so ähnlich und das möchte sie einfach nicht wahr haben. Denn die Realität ist hart. Um im Klartext zu sprechen: Beide sind einsam, unbeliebt und fühlen sich von der Welt nicht verstanden.
Doch das, was sie eigentlich zusammenschweißen sollte, ist in diesem Falle das, was bei der Mutter große Abwehr, wenn nicht sogar Hass, hervorruft. Ständig will sie Boy verändern und würde gerne erzwingen, dass er ihr vertraut und mit ihr lacht, wie er es mit Mark tut.
Aber Boy spürt, dass sie ihm gegenüber nicht echt ist und vielleicht auch, dass sie eigentlich nie ein Kind wollte. Eine Katze hätte es doch eigentlich auch getan. Er spürt einfach, wie kritisch sie ihm gegenüber ist und da sind Spannungen natürlich vorprogrammiert.
Allerdings wird Boy nie laut. Er nimmt alles hin, auch dass andere nur zu ihm kommen um an seinem Computer zu spielen und ihn dabei gar nicht mitspielen lassen, was seine Mutter wütend macht. Er ist nicht in seine Umgebung integriert, genau wie sie.
Doch wie schlimm es wirklich ist, zu was Boys Mitschüler wirklich fähig sind, davon hat die Mutter keinerlei Vorstellung.
Allein schon für die intensiven Einblicke ins Innere eines Menschen, der eigentlich selbst nicht mag, wie er sich verhält, aber immer wieder in alte Muster zurück verfällt, lohnt sich dieses Buch, für welches Wytske Versteeg 2014 für den Niederländischen Buchpreis (Libris Literatuur Prijs) nominiert gewesen ist.
Sie hat noch zwei weitere Romane geschrieben, welche es bisher allerdings nur in holländischer Sprache gibt. Ich hoffe sehr, dass diese Titel noch übersetzt werden, denn Wytske Versteeg ist eine großartige und sehr feinfühlige Schriftstellerin der Gegenwartsliteratur.
„Boy“ ist übrigens nur einer von sechs Titeln, die in der wunderschönen „Pas op, Boekenwurm! SNEL LEZEN!“ – Reihe im Rahmen des Gastlandes der Frankfurter Buchmesse 2016 bei Wagenbach erschienen sind und ich glaube, ich komme um die Lektüre der anderen Fünf nicht herum.
Das sind sie (für weitere Informationen einfach anklicken):
ISBN: 978-3-8031-2755-6
Verlag: Wagenbach
Erscheinungsjahr: 2016
Übersetzung: Christiane Burkhardt
Preis: 10,90 €
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