Eigentlich hatte ich nicht vor, dieses Buch zu lesen. Der Grund hierfür war, dass “Über Menschen” ein Corona-Setting hat – und darauf hatte ich einfach keine Lust.
Dann blätterte ich “nur mal kurz” hinein – und konnte diesen Roman nicht mehr aus der Hand legen.
Super!
Bis Greta Thunberg in Doras bzw. in Roberts Leben trat, war eigentlich alles in Ordnung.
Die beiden lebten zusammen in Berlin, Dora arbeitete in einer Werbeagentur als Texterin und Robert als freier Journalist.
Dann kam Greta – und gab Roberts Leben einen Sinn: Er war dazu berufen, Klimaaktivist zu sein.
Fortan hielt er ihr Vorträge zum Thema Umweltschutz und Mülltrennung, änderte seinen Lebensstil, ernährte sich vegan, ging auf Demos – und störte sich sehr daran, dass Dora nicht mitgehen wollte.
Manchmal warf er Dora vor, dass sie mit ihrer Arbeit ja alles noch schlimmer mache, denn sie kubele ja den Konsum an, der der Umwelt schade.
Daraufhin wechselte Dora den Arbeitgeber und schrieb fortan Texte zu Fair-Trade-Jeans aus nachhaltigen Materialien. Auch ok. Projekt ist Projekt.
Jedoch ertappte sie sich dabei, dass sie das ein oder andere Mal eine Pfandflasche in den Restmüll warf – und dabei Genugtuung verspürte.
Dann kam Corona – und gab Roberts Leben einen neuen Sinn: Er wurde zum Corona-Experten, schrieb Artikel für eine Online-Kolumne und wusste alles besser. Fortan gab es nur eine einzige Meinung zu diesem Thema: Nämlich seine.
Deshalb musste Dora fliehen.
Und jetzt ist sie hier: In Bracken, in Brandenburg.
Sie hat all ihr Erspartes in ein kleines Häuschen mit einem 150 qm-Grundstück gesteckt.
Und wenn sie ehrlich ist, muss sie sich bei diesem Anblick eingestehen, dass 15 qm auch gereicht hätten.
Als sich ihr neuer Nachbar mit “Grote. Ich bin hier der Dorf-Nazi.” vorstellt, wird Dora klar, dass die Bedenken ihres Vaters bezüglich ihres neuen Wohnorts vielleicht nicht so ganz unbegründet gewesen sind…
Was ich an diesem Buch besonders schätze, sind Juli Zehs genaue Beobachtungen und Beschreibungen. Sie bringt die Dinge Punkt.
Zum Beispiel das Thema “Kreislauf der Projekte” in der Arbeitswelt: “Alle Leute, die Dora kennt, sind mit diesem Kreislauf vertraut. Man beendet ein Projekt, um gleich darauf das nächste anzufangen. Für eine Weile glaubt man, das aktuelle Projekt sei das Wichtigste auf der Welt, man tut alles dafür, um es rechtzeitig und so gut wie möglich zu beenden. Nur um dann zu erleben, wie alle Bedeutung im Moment der Fertigstellung kollabiert. Gleichzeitig beginnt das nächste, noch wichtigere Projekt. Es gibt kein Ankommen.”
Treffend, oder…!?
“Über Menschen” ist aber mehr als eine Analyse unserer Zeit und unserer Befindlichkeiten.
Es ist ein Roman darüber, dass es im Leben nicht nur Schwarz und Weiß gibt.
In Roberts Welt ist das so. Für ihn ist seine Ansicht richtig und darüber wird nicht debattiert. Es gibt nur Gut und Böse. Nur richtig und falsch.
Manchmal ertappt sich Dora aber dabei, dass sie auch so denkt. Zum Beispiel, als ihr Nachbar (“Grote. Der Dorf-Nazi”) für sie (bzw. ihren Garten) Blumen im Baumarkt aussucht.
Es erstaunt sie, dass er mit seiner Pflanzenwahl guten Geschmack beweist und einen Sinn für das Schöne hat.
Daraufhin muss Dora erstmal darüber nachdenken, weshalb sie so erstaunt ist. Warum denkt sie in diesen Kategorien, obwohl sie das nicht möchte?
Schließlich kommt sie zum Ergebnis, dass “nirgendwo […] geschrieben [steht], dass Neonazis keine Hortensien mögen”.
Solche kleinen Momente sind es, die diesen Roman so besonders machen und die dem Leser zeigen, dass es im Leben einen Bereich zwischen den Extremen gibt. Graustufen. Oder Kompromisse, oder Toleranz. Wie auch immer dies bezeichnen mag.
Was Juli Zehs Beschreibung der Landlebens anbelangt, so ist sie einerseits sehr realistisch. (Zum Beispiel was den Busfahrplan (zwei Abfahrtszeiten pro Tag), oder den Geräuschpegel (ruhig ist es auf dem Dorf nämlich nicht) anbelangt.
Andererseits scheint es mir so, als ob sie beim Schreiben eine rosarote Brille getragen hat.
Man könnte es aber auch anders formulieren: Juli Zeh beschreibt hier eine Gemeinschaft, die sich wahrscheinlich jeder Mensch wünscht.
Eine Welt, in der alle sehr verschieden sind, aber in Frieden und Toleranz miteinander leben. Eine Welt, in der jeder dazugehört.
Eine Welt, in der jeder jedem hilft, egal welche Ansichten er vertritt.
Im Prinzip hat Juli Zeh hier eine Utopie erschaffen. Einen Sehnsuchtsort, an dem wir eine Weile in Gedanken leben dürfen.
Das klingt jetzt nach totalem Kitsch. Das wäre es auch, wäre da nicht diese genauen Analysen, die einen zum Nachdenken bringen und Juli Zehs trockener Humor, (“Wir in der Provinz wären ja gern bereit, uns Amtemschutzmasken zu besorgen, aber wo kriegen wir diesen ÖPNV her?”) der das Ganze immer wieder durchbricht – und dieses Buch so gut macht.
“Über Menschen” ist definitiv eines meiner Highlights des Jahres 2021.
ISBN: 978-3-442-77219-3
Verlag: btb
Erscheinungsjahr: 2022
Seiten: 416
Preis: 12,00 €
Die gebundene Ausgabe dieses Titels ist 2021 bei Luchterhand erschienen.
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