Karen Duve: „Fräulein Nettes kurzer Sommer“

Karen Duve: „Fräulein Nettes kurzer Sommer“

“Annette von Droste-Hülshoff war eine Nervensäge.” Der erste Satz dieses Buches ist super – und die folgenden 592 Seiten sind es auch.
Definitiv eines meiner Highlights des Jahres 2018.

Wilhelm Grimm bekommt Panik, wenn er Annette von Droste-Hülshoff auch nur sieht, denn sie weiß sich nicht zu benehmen.
Sie schweigt nicht sittsam, stickt nicht und spricht nicht eine Stimmlage höher, wenn sie einem Mann von Rang begegnet. Sie mischt sich in die Unterhaltungen der geistigen Elite ein und sagt klipp und klar ihre Meinung, auch wenn sie nicht gefragt worden ist. Das gehört sich nicht!
Dass sie Wilhelm Grimm mit “Wilhelm Unwill” und ein anderes Mal mit “Grimmhelm Wimm” anspricht übrigens auch nicht. Besagter Herr war deswegen tagelang gekränkt.
Er “ist aber auch schrecklich empfindlich.”

Annette reimt auch ganz “hübsche Sächelchen, die sich an Geburts- und Feiertagen nett vortragen” lassen. “Aber [muss] denn eine zwölfjährige unbedingt in Hexametern dichten und den Erwachsenen, die sie dafür [loben], so einen gelangweilten und besserwisserischen Blick zuwerfen?”
Als ein Brief eintrifft, in welchem man das Kind darum bittet, einen Beitrag zum “Poetischen Tagebuch des Jahres 1820” zu leisten, läßt Annettes Mutter diesen verschwinden.
Das wäre ja noch schöner! Nicht handarbeiten, vorlaut sein und dann noch gedruckt werden!
Nein, nein, das kommt ja nicht infrage. Wo kommen wir denn da hin?!

August und Werner von Haxthausen sind zunächst vom Talent ihrer Nichte sehr begeistert und möchte sie fördern, doch schnell geht sie ihnen auf die Nerven.
Tief im Inneren dürfte beiden klar sein, dass die Verse ihrer Nichte besser sind, als alles, was sie je produzieren werden. Dieses Mädchen muss man kleinhalten – und bloß nicht weiter loben.
Weshalb August und Werner plötzlich nicht mehr nett zu ihr sind, versteht Annette überhaupt nicht. Dass sie neidisch auf ihr Talent sein könnt, kommt ihr nicht in den Sinn.
Wie auch.

Annette hat Talent, doch ihr Gesundheitszustand ist nicht der Beste. Zum einen ist sie ist blind, wie ein Maulwurf und kann Dinge nur erkennen, wenn sie sich nur wenige Zentimeter entfernt vom jeweiligen Objekt befindet.
Zum anderen ist sie ständig krank, was vielleicht darauf zurückgeführt werden kann, dass sie viel zu früh geboren worden ist.
Das hält sie jedoch nicht davon ab, sich ständig draußen aufzuhalten und nach Mineralien zu suchen. Ihre Röcke sind immer schmutzig. Unerhört!

Doch auf die Männer übt diese unkonventionelle Art einen gewissen Reiz aus und auch Heinrich Straube verfällt ihr. Er ist laut August von Haxthausen der neue Goethe und wird daher von ihm protegiert. Allerdings ist er kein Adliger. Eine Verbindung mit Annette ist also undenkbar.
Jedoch hat sich Annette durch Konventionen noch nie von etwas abhalten lassen…

Eigentlich wollte ich dieses Buch gar nicht lesen. An Annette von Droste-Hülshoff bzw. an ihr Werk, habe ich keine allzu guten Erinnerungen, denn “Die Judenbuche” war eine meiner Schullektüren. Ein Roman, der mich damals sehr gequält hat.
Aber ich kann mich auch an kein einziges in der Schule gelesenen Buch erinnern, das ich gerne gelesen habe. Vielleicht lag es auch daran, dass ich wusste, dass die Arbeit nach dem Lesen erst richtig losgehen würde: Interpretieren, auseinandernehmen, analysieren. Aber da muss man eben durch.

Daher hatte ich zu Annette von Droste-Hülshoff keine gute Verbindung. Bis zu dem Tag, an welchem “Fräulein Nettes letzter Sommer” zur Besprechung im Literarischen Quartett ausgewählt worden ist.
Ich habe mich aus beruflichen Gründen (man muss ja schließlich informiert sein) mit den vier Büchern der Sendung näher befasst und schon nach dem ersten Satz der Leseprobe dieses Romans war mir klar: Das ist der Hit!

Das ist keine staubtrockene Angelegenheit, kein dröges Entlanghangeln an historisch Belegtem, nein, das ist Unterhaltung auf ganz hohem Niveau!
Karen Duve überzeugt mit Ironie und trockenem Humor; ich habe mich schon lange nicht mehr so sehr auf jedes einzelne Kapitel eines Romans gefreut.

Schon alleine die Beschreibung des Dauerregens im zweiten Kapitel ist göttlich – und sehr plastisch:
Es gießt wie aus Eimern und August von Haxthausen als auch Heinrich Straube sind klatschnass. Zudem beginnt Straubes Flaus (ein mantelähnliches Kleidungsstück) tierähnlich zu müffeln. Dennoch benutzen die beiden nicht die neuen Gehwege, auf die die Stadt so stolz ist, sondern laufen auf der Straße.
Und das obwohl die Rinne in der Straßenmitte, die eigentlich für die Abwässer gedacht ist, übergelaufen ist und die “ganze Fahrbahn zur Gosse gemacht [hat], in der eine stinkende Brühe aus Hausabwässern, Jauche, Kot und Schlachtabfällen Blasen” schlägt.

Die neuen Gehsteige sind zwar sehr schön, doch bei der Planung ist ein Fehler unterlaufen: “[…] Die Abflussrinnen, die von den Mistgruben zwischen den Häusern herausführten, waren lange vor den Gehsteigen angelegt worden und man hatte während der Baumaßnahmen schlichtweg vergessen, diese zu verlängern. Statt auf den Fahrdamm ergossen sich die Abflüsse nun direkt auf den Gehsteig.”
Straube und August von Haxthausen waten also triefnass durch die Brühe, als Straube ganz trocken sagt: “Ein Schirm wäre jetzt schön.”
Schon an dieser Stelle musste ich so sehr lachen. Und da ist ja noch gar nichts passiert!

Auch die Sitzungen der Männergilde “Poetische Schusterinnung”, an welcher August von Haxthausen und Heinrich Straube teilnehmen, sind so witzig!
Sinn der Treffen (bei welchen auch einige Hunde anwesend sind und nass (siehe oben) vor sich hinstinken) ist, dass jeder ein Gedicht vorträgt und es danach von den anderen rezensiert wird.
Was nicht bei allen gut ankommt. Bei Heinrich Straube zum Beispiel: “Ich würde gerne eine Kritik der drei Rezensionen verlesen, die das letzte Mal über mein schönes Gedicht hergefallen sind […].” .
Klasse!

Ich könnte jetzt noch von so vielen genialen Stellen in diesem Buch berichten, zum Beispiel von der Sammelwut der Gebrüder Grimm und davon, wie Wilhelm Grimm einmal eine Sammlung von Texten an Clemens Brentano ausgeliehen hat, ohne zuvor eine Abschrift für sich zu machen.
Ein Fehler, denn es ist allgemein bekannt, dass man Clemens Brentano nichts, aber auch gar nichts ausleihen darf. Man bekommt es nämlich niemals zurück….

Das Großartige an diesem Buch ist, dass man ohne jegliche Vorkenntnisse lesen kann und riesigen Spaß bei der Lektüre hat.
Mir war zwar die Dichterin Annette von Droste Hülshoff bekannt (bei den Gebrüdern Grimm versteht sich das ja von selbst), jedoch hatte ich von zum Beispiel August von Haxthausen noch nie etwas gehört. Auch der Stammbaum zu Beginn des Romans mag zunächst etwas eindrucksvoll und abschreckend wirken, doch keine Angst – man braucht ihn nicht, sondern kann sich einfach über dieses Buch freuen.

Karen Duve hat extrem viel recherchiert; was hier steht ist historisch belegt. Man bekommt so viel von der Atmosphäre der damaligen Zeit mit und einige geschichtliche Ereignisse peu á peu serviert, von denen man irgendwann vielleicht schon einmal gehört hat. So ganz dunkel, in der Schule vielleicht, im Geschichtsunterricht. Oder auch nicht, aber das ist auch völlig gleich.
Karen Duve schreibt so kenntnisreich und dabei so unterhaltend, dass man gar nicht anders kann, als sich die Geschehnisse (wie zum Beispiel das Attentat auf den Dichter August von Kotzebue durch den Studenten Karl Ludwig Sand am 23. März 1819) zu merken.
Das ist super! Wie das ganze Buch.

Ich merke, ich wiederhole mich, aber egal. Dies kann nicht oft genug gesagt werden.
Karen Duve hat mit “Fräulein Nettes kurzer Sommer” einen Knaller geschrieben, ich habe so viel gelacht!
Besser geht´s nicht.

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ISBN: 978-3-462-05418-7
Verlag: Kiepenheuer & Witsch
Erscheinungsjahr: 2020
Seiten: 592
Preis: 14,00 €

Die gebundene Ausgabe dieses Titels ist 2018 bei Galiani erschienen.


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3 thoughts on “Karen Duve: „Fräulein Nettes kurzer Sommer“
Jana

Liebe Friederike,
ich hatte den Titel des Buches bislang nur mit halbem Ohr und im Vorbeigehen gehört, aber nach deiner begeisterten Besprechung ist das Buch ein klarer Fall für das Wissenstagebuch. Ich mag solche Bücher, die gut recherchiert und dabei fast spielerisch über historische Begebenheiten berichten, sehr gern. Ich mochte damals ,,Die Vermessung der Welt“ gern und habe gerade glücklich den ,,Lärm der Zeit“ beendet. Da hoffe ich, dass Fräulein Nette gut hineinpasst.
Viele Grüße
Jana

    Friederike

    Ich glaube, das wird sie :).

    Viele Grüße und viel Spaß beim Lesen wünscht
    Friederike

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