In diesem Frühjahr sind gleich zwei Werke der vielfach ausgezeichneten, und wie ich finde nobelpreisverdächtigen, Autorin Margaret Atwood in deutscher Sprache erschienen. Zum einen handelt es sich um “Hexensaat”, ihren Romanbeitrag zum „The Hogarth Shakespeare Project“, bei welchem Autoren ein Shakespeare-Stück ihrer Wahl in einem Roman verarbeiten, zum anderen um den Zukunftsroman “Das Herz kommt zuletzt”, der mir sehr viel Freude bereitet hat.
Charmaine und Stan leben im Auto. Sie können von Glück reden, überhaupt eines zu besitzen, denn vielen ist dies in den USA nach dem Zusammenbruch der Wirtschaft nicht vergönnt.
Gangs und Vandalen ziehen umher und deshalb schläft Stan auch auf dem eigentlich viel zu engen Vordersitz: Er muß ständig bereit sein, das Auto zu starten, um den gewaltbereiten Typen davonzufahren.
Saubere Kleidung und Duschen, davon träumt Charmaine, doch sie versucht positiv zu bleiben, denn immerhin hat sie noch einen Job – im Gegensatz zu Stan. Zwar ist das Diner, in dem sie ihre Schichten absitzt, extrem schmuddelig und heruntergekommen, aber es ist ein Job und sie hat etwas zu tun.
Das ist viel wert in dieser hoffnungslosen Zeit.
Während einer trostlosen Schicht im Diner wird Charmaine schließlich bei einem Werbespot hellhörig. Ein schicker, gepflegter Mann im Anzug fragt, ob sie nicht auch genug davon hätte, im Auto zu leben und läßt verlauten, dass das Positron-Projekt in der Stadt Consilience neue Mitglieder aufnimmt.
In Consilience sei alles, wie früher. Alle Teilnehmer würden in Häusern leben, eine Berufsausbildung erhalten und auf diese Art mithelfen, Arbeitslosigkeit und Kriminalität zu bekämpfen. Das klingt ja traumhaft.
Charmaine und Stan bestehen den Eignungstest und unterschreiben, wenn auch mit mulmigen Gefühl, den Vertrag, in dem sie zustimmen, dass sie die Stadt, bis zu ihrem Tod nicht mehr verlassen werden.
Danach erfahren sie erst, nach welchem Konzept das Leben in Consilience geregelt ist. Die Gemeinschaft ist in zwei Gruppen unterteilt, die abwechselnd einen Monat im Gefängnis und in einem Wohnhaus in der Stadt leben und arbeiten. Praktisch bedeutet das, dass sich Stan und Charmaine ein Wohnhaus mit einem anderen Pärchen teilen, dieses aber nie kennenlernen.
Zunächst funktioniert alles prima. Charmaine ist so glücklich in einer sauberen Umgebung zu leben und Stan hat endlich etwas zu tun, denn er arbeitet in einer Werkstatt und repariert Roller. Auch die Gefängnismonate verlaufen ohne Probleme, denn auch dort haben sie Aufgaben. Charmaine strickt zum Beispiel in einem Strickkreis blaue Teddybären.
Doch geregelte Lebensumstände bedeuten nicht, dass es es keine Probleme gibt, denn Stan ist mit seinem Liebesleben so gar nicht zufrieden. Er ist den Blümchensex mit Charmaine leid und beginnt sich die Frau, die in seinen Gefängnismonaten im Haus lebt vorzustellen. Er steigert sich extrem in diese Gedankenwelt hinein und zwar so sehr, dass er gar nicht merkt, dass auch Charmaine ihre ganz eigenen Sehnsüchte auslebt.
Das ändert sich, als eines Tages ein Systemfehler die Wohnzyklen der beiden Paare vertauscht und Stan mit der “Frau seiner Träume” zusammentrifft…
Der erste Roman, den ich von Margaret Atwood gelesen habe war “Der Report der Magd” und bereits in diesem beschäftigt sie sich, wie in einigen ihrer nachfolgenden Romane, mit einer Vision der Zukunft.
Für mich ist “Der Report der Magd”ein Vorläufer des Jugendbuch-Genres der Dystopie, das inzwischen den Jugendbuchmarkt mit beherrscht. Man denke nur an zum Beispiel an “Die Tribute von Panem”, “Die Bestimmung”, oder an “Das Juwel”, das, wie ich finde, eine Spielart von “Der Report der Magd” darstellt, zumal in beiden Welten nur ganz bestimmte Personen Kinder auf die Welt bringen können.
Mit “Das Herz kommt zuletzt” ist nun eine neue Zukunftsvision Atwoods erschienen, allerdings eine, die ungleich abgedrehter und skurriler ist, als oben Erwähnte.
Hier werden zum Beispiel kopflose Hühner gezüchtet und Sexroboter hergestellt, die sich in Elvis Presley Verkleidung als wahre Kassenschlager entpuppen.
Das klingt durchgeknallt und schräg und genau das ist es auch. Wenn man denkt, es kommt nicht mehr verrückter, setzt Atwood noch eins drauf und das hat mir viel Freude bereitet.
Dieses Buch hätte, wie ich finde, genauso gut aus T.C. Boyles Feder stammen können, dessen Werk ich ja sehr liebe. Wer zum Beispiel “Die Terranauten” mochte, der wird an “Das Herz kommt zuletzt” bestimmt seinen Spaß haben. Ich jedenfalls habe die Lektüre genossen und freue mich sehr auf Margaret Atwoods Roman “Hexensaat”, der dieser Tage erschienen ist.
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ISBN: 978-3-492-31275-2
Verlag: Piper
Erscheinungsjahr: 2018
Übersetzung: Monika Baark
Seiten: 400
Preis: 12,00 €
Die gebundene Ausgabe dieses Titels ist 2017 im Berlin Verlag erschienen.
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