Maxim Biller: „Sechs Koffer“

Maxim Biller: „Sechs Koffer“

Man kann von Maxim Biller halten, was man will – schreiben kann er.
Nicht nur ich bin beeindruckt und begeistert, sondern wohl auch die Jury des Deutschen Buchpreises 2018. „Sechs Koffer“ steht auf der Longlist und das freut mich sehr.

Heute kommt Dima frei. Fünf Jahre lang saß er im Gefängnis Pankrac in Prag, denn er wollte nach Westberlin fliehen und war bei der Flucht verhaftet worden. Dies könnte unter anderem daran gelegen haben, dass Dima fast allen Freunden und Bekannten von seiner geplanten Flucht erzählt hatte. Dass das Innenministerium davon erfahren würde, war klar und nur eine Frage der Zeit.

Doch das weiß Dimas Neffe im Mai 1965 nicht und spekuliert daher wild herum, weshalb sein Onkel inhaftiert worden sein könnte. Denn niemand sagt ihm, weshalb dies geschehen ist. Könnte es vielleicht sein, dass Dima jemanden umgebracht hat?
Vielleicht ist er ja für den Tod des Großvaters, der in Russland hingerichtet worden ist, verantwortlich.
Über dieses Thema wird in der Familie nicht gesprochen und wir erfahren nach und nach, dass jeder jeden verdächtigt, den Großvater, der Geld in den Westen schmuggelte, verraten zu haben.

War es vielleicht die schöne und selbstbewusste Natalia, Dimas Ehefrau, die vor ihrer Ehe mit dem Vater des Erzählers zusammen war?
Oder vielleicht Dimas Bruder Lev, dem schon früh die Flucht nach Westberlin gelang und der seit Jahren in der Schweiz lebt?

Aber dies ist nicht das einzige Thema, das in der Familie nicht angeschnitten wird. Denn wer war es denn, der dem Innenministerium den ausschlaggebenden Tipp gab, der zur Verhaftung Dimas führte?
War es vielleicht seine Frau Natalia? Oder etwa sein eigener Bruder?
Dies alles belastet die Familie sehr, denn Misstrauen ist dem harmonischen Zusammenleben nicht gerade dienlich.
Jeder in diesem Buch eine Last zu tragen hat.

Unser Protagonist leidet unter der Last der Ungewissheit. Seine Mutter Rada leidet einerseits darunter, dass ihr Mann sich vielleicht doch noch zu Natalia hingezogen fühlen könnte, mit der er ja einmal eine Beziehung hatte. Andererseits  macht es ihr sehr zu schaffen, dass auch sie auf einen anderen Mann hereingefallen ist, der sie nun zu verraten droht, wenn sie sich nicht so verhält, wie er es sich wünscht.
Wie kann man sich nur so in einem Menschen täuschen.

Über all dem schwebt die Frage, was in “Sechs Koffer” der Wirklichkeit entspricht und was nicht. Denn Maxim Biller benutzt die Namen realer Personen. Die Familie im Roman trägt den Nachnamen Biller. Maxim Billers Mutter, die ebenfalls Schriftstellerin ist, heißt Rada, wie die Mutter des Erzählers im Roman.
Des Weiteren hat der Erzähler eine Schwester namens Jelena, die in späteren Jahren in London lebt und ebenfalls als Schriftstellerin arbeitet. Wie auch Maxim Billers Schwester Elena im wahren Leben.

Das Maxim Biller nicht davor zurückschreckt lebende Personen in seinen Werken zu verarbeiten, wissen wir spätestens seit seinem Roman “Esra”, in welchem Biller eine Beziehung schildert, in der sich seine frühere Partnerin so stark wiedererkannte, dass sie eine einstweilige Verfügung erwirkte.
Aufgrund der Verletzung der Persönlichkeitsrechte darf der Roman auch heute nicht verlegt werden.

Es ist nichts Neues, wenn ich sage, dass Biller einen starken Drang zur Provokation zu haben scheint. Das wissen wir spätestens seit seinen Auftritten in der Sendung “Das Literarische Quartett” und ich denke, dass er genau aus diesem Grund auf eben jenen Kritikersessel gesetzt worden ist. Um Spannungen zu erzeugen und um die Sendung aufzumischen.
Diese Rolle hat er brillant gespielt und viele haben sich über seine arrogante Art und Weise echauffiert, was vielleicht Sinn des Ganzen gewesen sein mag. So hält man eine Sendung im Gespräch. Es war teilweise auch wirklich anstrengend, doch das war nicht immer Billers Verhalten geschuldet. Da gab es auch andere.

Die Provokation jedenfalls scheint Maxim Billers Steckenpferd zu sein, doch in seinem aktuellen Werk wird diese überlagert. Von Maxim Billers einzigartige schriftstellerische Gabe, die alle eventuellen Ähnlichkeiten mit lebenden Personen vollkommen irrelevant macht.

Niemals hätte ich einen Roman Billers zur Hand genommen, wäre “Sechs Koffer” nicht für die Besprechung im “Literarischen Quartett” ausgesucht worden.
Doch als ich mir die Bücher der Sendung ansah und in die Leseprobe von “Sechs Koffer” hineinschaute, war nach drei Sätzen klar, dass dies große Literatur ist.

Ganz klassisch, ohne Pathos und sehr liebevoll bringt uns Biller hier handelnden Personen näher. So viel Feingefühl hätte ich ihm nicht zugetraut.
Aber vielleicht ist diese laute, polternde Art die er im Fernsehen an den Tag legt, nur eine Fassade. Eine Art Schutzmantel, hinter dem ein sehr sensibler Mensch steckt.
Ich freue mich sehr diese Seite des Kritikers kennengelernt zu haben und bin mir eigentlich sicher, dass wir diesen Roman beim Deutschen Buchpreises antreffen werden. Meines Erachtens nach ist “Sechs Koffer” ein heißer Kandidat für die die Shortlist bzw. für den Gewinn des Preises.

Wie Maxim Biller mit der Nominierung bzw. mit diesem Preis umgehen würde, das ist eine andere Sache. Anerkennung annehmen zu können ist auch eine Kunst.
Vielleicht möchte er lieber provozieren.
Aber wer weiß. Lassen wir uns überraschen.

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ISBN: 978-3-596-70016-5
Verlag: Fischer
Erscheinungsjahr: 2020
Seiten: 208
Preis: 11,00 €

Die gebundene Ausgabe ist 2018 bei Kiepenheuer & Witsch erschienen.


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8 thoughts on “Maxim Biller: „Sechs Koffer“
Marina Büttner

Ging mir auch so bei der Leseprobe. Ich bin sehr gespannt, wie es weiter geht.
Viele Grüße!

Ivy

Ich muss gestehen, dass ich Maxim Biller bis dato noch gar nicht kannte, auch nicht seine Auftritte beim Literarischen Quartett. Aber deine Meinung zum Buch las sich jetzt super interessant 🙂 Wenn man Parallelen zum „wirklichen“ Leben entdeckt, kriegt das Buch nochmal einen ganz neuen Anstrich, finde ich. Mir ging es damals so mit „Who the fuck is Kafka“ von Lizzie Doron, wo sich heraus stellt, dass die Erzählerin ebenfalls Lizzie heißt und wie die Autorin selbst israelische Schriftstellerin ist, die oft an Friedenskonferenzen teilnimmt. Da fand ich das Nachwort dann ganz spannend, dass die Geschichte quasi halb fiktiv, halb autobiographisch ist.

In jedem Fall will ich nach meinem Urlaub mal in Ruhe in die Leseprobe rein schnuppern, denn mein Interesse hast du geweckt.

Ich wünsch dir ein schönes Wochenende!
Ivy
https://licentpoeticae.wordpress.com/

Friederike

Liebe Ivy,

„Who the fuck is Kafka“ fand ich damals auch toll, zumal ich während des Lesens viel gelernt habe. https://www.diebuchbloggerin.de/lizzie-doron-who-the-fuck-is-kafka/
Genauso ging es mir mit der wunderbaren Lektüre „Die Hochzeit der Chani Kaufman“ von Eve Harris. https://www.diebuchbloggerin.de/eve-harris-die-hochzeit-der-chani-kaufman/

Ich wünsche Dir einen schönen Urlaub,
viele Grüße,
Friederike

Tessa

Eigentlich wollte ich kein Buch mehr von Biller lesen, er erschien mir einfach zu unsympathisch bei seinen Auftritten. Jetzt habe ich ‚Sechs Koffer‘ doch begonnen und schon auf Seite 12 hakt es:
„Sollten sie beide über den Tod ihres armen Vaters lachen, ihres geliebten, strengen und meistens viel zu großzügigen Taten?‘ Was soll das? Oder spielt mir meine Voreingenommenheit einen Streich? Geht das in diesem Buch so weiter?

Tessa

Ach ja, hab’s verstanden. Also wirklich typisch Biller. Da möchte ich ich doch schon nicht mehr weiterlesen.

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