“Winters Garten” – das ist Antons Garten, in dem er seine Kindheit verbringen durfte. Hohe Gräser, Teerosen, grüne Äpfel an dem Bäumen – es scheint das Paradies zu sein. Alleine ist Anton nie, denn im Haus leben viele Menschen der Großeltern – Generation und viele Kinder, viele Spielgefährten. Auch der Tod gehört zum Leben im Garten dazu: “Starb jemand, standen sie nachts gemeinsam im Garten und sahen himmelwärts zu den Sternen, und es war, als ob durch den Riss des Todes die Zurückgebliebenen dem Toten ins Universum hinterherschauten.”.
Auch die Großmutter hat eine besondere Art und Weise den Toten zu gedenken: Sie hatte einige Fehlgeburten, die sie in großen Einmachgläsern im obersten Fach in der Speisekammer aufbewahrt und von denen Anton fasziniert ist.
Schon alleine dieser Beginn des Romanes ist großartig. Lyrisch, poetisch und der Einfall mit den Föten ist grandios und wirkt durch Valerie Fritschs gekonnten Tonfall überhaupt nicht abstrus, oder wahnsinnig. Diese Einmachgläser sind ganz natürlich und gehören zum Leben und Sterben im Garten einfach dazu.
Die Kinder scheinen eine sehr glückliche Kindheit zu haben: Sie legen Herbarien an, sitzen gemeinsam unter den Bäumen und pflegen zusammen die Lilienbeete. Kinder und Alte leben in Eintracht Seite an Seite. Wo sind die Eltern? Fragt man sich unweigerlich. Je nun, die spielen nicht wirklich eine wichtige Rolle. Zwar kommen sie von der Arbeit in der Stadt nach Hause, aber viel mehr erfährt man über sie nicht. Antons Vater arbeitet nicht in der Stadt. Dennoch hat Anton nicht viel von ihm, diesem schweigsamen und zurückgezogenen Menschen. Er bringt Anton zwar alles über den Wald und das Holz bei (er ist Geigenbauer in dritter Generation) aber viel mehr lernt Anton von seinem Vater nicht. Eine wirkliche Nähe zwischen den beiden kommt einfach nicht auf. Doch auch das scheint in Ordnung so zu sein.
Doch Anton ist weggegangen aus dem Paradies. Inzwischen lebt er in der Stadt und züchtet auf dem Dach eines Hochhauses Vögel. Wehmütig denkt er an die schöne Zeit im Garten zurück, den die Welt hat sich inzwischen gewandelt: Im Hafen liegen viele Tote. Es gibt Aufrufe zum Massenselbstmord. Die Welt ist dem Untergang geweiht.
Inzwischen existieren auch Gebährkliniken, in denenfast nur noch Freiwillige arbeiten. Wozu denn auch Kinder in die Welt setzen, wenn keine Hoffnung mehr besteht. Da schon bald die Schwangerschaftstests ausgegangen sind “[…]griff man wieder auf alte Hausmittel zurück und spritze den Kröten und Fröschen Urin in die Lymphsäcke, um zu sehen, ob sie innerhalb der folgenden vierundzwanzig Stunden fruchtbar würden und Laich absetzten”. In einer dieser Kliniken arbeitet Frederike, in die sich Anton Winter verliebt. Eine Liebe in einem totkranken Land, einem Land der Völkerwanderungen, einem Land der Flüchtenden.
Was Valerie Fritsch hier auf wenig Raum kreiert, ist einzigartig. Märchenhaft und dystopisch zeichnet sich langsam die Trostlosigkeit der Welt ab. Ich hatte das Gefühl einen richtig dicken Roman gelesen zu haben, doch dieses Buch ist eigentlich ein schmaler Band, der einen unglaublichen Sog entwickelt. Ich bin schwer beeindruckt, wie Valerie Fritsch diesen wortmalerischen Klangteppich ausbreitet und mich einhüllt, eine Welt am Abgrund entstehen läßt, die in meinem Kopf sehr realistische Züge angenommen hat.
Die Autorin ist für einen Textauszug dieses Buches bereits zweifach beim beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt ausgezeichnet worden und ich lehne mich jetzt aus dem Fenster und sage, dass ihr meiner Ansicht nach, ein Platz auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises sicher ist, denn sie hat mit diesem Buch wirklich etwas ganz Großes geschaffen.
Weitere Rezensionen gibt es beim Literaturen, lustauflesen.de und buchrevier. Die Klappentexterin und buchrevier haben sich über dieses Buch im Bloggertalk ausgetauscht.
ISBN: 978-3-518-46665-0
Verlag: Suhrkamp
Preis: 10,00 €
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